Liepnitzsee
Wo Honecker und Genossen schwammen

Die Insel im Brandenburger Liepnitzsee ist die größte Sommerliebe der Berliner. Im Herbst verlassen sie die Städter wieder, die bei ihr das Glück gesucht haben.

Sagen, Legenden, Gerüchte, die sich bis heute halten, raunen überall.

Es heißt, der Liepnitzsee sei entstanden, als ein Riese drei Schritte nördlich von Berlin nach Wandlitz tat. Im Zweiten Weltkrieg versinken Flugzeugteile, danach schwimmen SED-Funktionäre, man erzählt vom Leben ohne Strom und Wasser oder von einem verrückten Ziegenbock, der Dauercamper aus ihren Zelten auf die Bäume jagte. Schon in den zwanziger Jahren kommen Anhänger der Freikörperkultur zum Baden auf den Großen Werder, später dann, DDR-Zeiten, vermutet man dort nackte Mädchen und eine Lagune mit blauem Wasser, klarer und reiner als aus der Leitung.



Im See spiegeln sich Berlin und seine Träume. Vielleicht braucht jede Stadt ihre Utopie. Auf der Insel, die genau in der Mitte liegt, haben die Städter schon immer das gefunden, was sie gesucht haben, zumindest für einen Sommer. Erst wenn die Saison im Oktober zu Ende geht, die Zelte abgebrochen werden, versinkt das Paradies, das sich die Berliner hier jeden Sommer neu erschaffen, in seinen Winterschlaf. Doch manche bleiben etwas länger, bis das Eis kommt. Wie der frühere Fährmann Dieter Heymann, der 20 Jahre die kleine Strecke vom Festland bei Ützdorf zur Insel fuhr, mindestens einmal in der Stunde.

Früher war Heymann Lastwagenfahrer. Bis er in den sechziger Jahren einmal zum Zelten kam. "Dann blieb ich auf der Insel hängen", sagt er. Er war immer da, wenn jemand am anderen Ufer stand, der Fährmann zur Insel, die ohne ihn doch abgeschnitten wäre.

Rätselhaft wirkt die Insel von Anfang an, was aber auch nur an dem Blick des Städters auf die Natur liegen kann. Ein Paar im gelben Schlauchboot versucht gerade verzweifelt, an einem Steg anzulegen, und schimpft etwas von alten Seilschaften, hier sei ja alles privat, Staatsterror wäre das, nur mit anderen Mitteln. Dem Mann fällt eine Brille ins Wasser, er taucht danach. Der kleine politische Einwurf ist schnell vergessen, wenn man beim Weitergehen auf den See blickt, der ganz unschuldig daliegt. Dann kommt ein altes Haus im Wald, das "Insulanerklause" heißt und an diesem Tag Erdbeerkuchen im Angebot hat.



Im Hühnergehege eine alte Frau im Blumenkittel. Sie war die Erste, die hier Fassbrause und Gulaschsuppe verkaufte und das ganze Jahr auf der Insel lebte. Wie es dazu kam, klingt abermals wie eine der vielen Legenden. Jedenfalls rettete der Großvater der Pionierin im Jahr 1864 dem Grafen von Redern das Leben, als der mit seinem Pferd im Sumpf versank. Aus Dankbarkeit überschrieb der Graf ihm die Insel samt brachliegendem Bauernhof zur Pacht.

Als die ersten Touristen in den zwanziger Jahren hierher kamen, schiffte man sie auf einem Floß herüber und verköstigte sie an einem Fensterladen. Die Landwirtschaft hatte auf dem sandigen Boden noch nie viel hergegeben, und die Zelte nahmen mit Beginn der dreißiger Jahren immer mehr Platz ein. Für 20 Ostmark konnte man sich dann zu DDR-Zeiten einen Platz fürs Jahr mieten.

Anfangs sahen die Behausungen aus wie Hundehütten, und als Trinkwasser fing man den Morgentau auf der Plane ab. Man buddelte sich ein Erdloch, um die Lebensmittel aufzubewahren. Man lief wie Adam und Eva herum, das störte bei den paar Leuten niemanden. Die Eichhörnchen hopsten herum, als wären sie unter Drogen.



Sobald die letzte Fähre am Abend um acht die Insel verlässt, wird es ruhig in dem Wäldchen und an den Stegen. Abgeschnitten von der Welt, treibt die Insel in die Dämmerung hinein. Nun beginnen die Fische zu hüpfen, und auf den Wegen grüßt man sich mit Vornamen. Die Tagesausflügler sind schon wieder auf dem Weg in die Stadt, vielleicht erzählen sie dort noch von ihrem Trip in die Natur, wo jetzt nur noch die Insekten zu hören sind. Wenn man sich dann später selbst in sein kleines Zelt legt, in einer in Sternenlicht getauchten Landschaft, dann scheinen die ganzen Mythen wahr, die die Eingeborenen von ihrer Vergangenheit erzählen.



In der Abenddämmerung finet sich eine kleine Runde bei einem Dauercamper ein, der früher bei der NVA die Kampftaucher ausgebildet hat. Am Eingang zu seinem Zelt stehen orangefarbene Sauerstoffflaschen aus Armeebeständen, die einen an James Bond denken lassen. Es gibt Käsebrote und Kümmerling-Fläschchen, denn die kann man leichter vom Festland herübertransportieren als Weinflaschen. Und wieder gibt es Geschichten: von Schlingpflanzen, bunt wie Seesterne, und einem Wildschwein, das mit der Fähre an Land fuhr.

Und weißt du noch: die Faltboote von Walter Ulbricht. Das heutige Waldbad am festen Ufer des Liepnitzsees war früher Regierungsgelände. Mit Maschinengewehren haben wir die badenden Parteigenossen aus der nahen Waldsiedlung Wandlitz und plantschende Diplomatenkinder bewacht. Irgendwann haben die Männer, die auch gern ein Motorboot gehabt hätten, behauptet, der Fährmann hätte mit seinem Boot jemanden überfahren, auch so eine erfundene Geschichte.
Bald werden am Morgen die Menschen kommen, die man sonst in Berlin-Mitte oder am Prenzlauer Berg trifft. Woher die ganzen Menschen kommen, erklärt ein Blick auf den See. Auf Luftmatratzen und in Schlauchbooten rudern sie vom Festland her, die Berliner mit ihrer langen Inselerfahrung. Manche ziehen Plantschbecken mit ihren Freizeit-utensilien hinter sich. Andere haben ihr Zeug in Müllsäcke gepackt, die sie aufgeblasen vor sich herschieben. Solange das Wasser warm genug ist, schwimmen auch einige einfach zur Insel, um für einen Nachmittag abgeschnitten zu sein, das Inselgefühl zu spüren.

Quelle: ZEIT 40/2003