Ich hatte befürchtet,
sie geben den Preis an jemanden,
den ich für ein Arschloch halte.
Ich scheiße auf Eure Menschenrechte.
Ich scheiße auf Eure bedrohten Völker.
Steckt Euch die Toten in den Arsch!
Zitate?
Tumult um Nobelpreisträger
Nobelpreisträger
Fritz Haber für Chemie (1918): „Vater des Gaskriegs“. Unter seiner Leitung formieren sich die deutschen Gastruppen und
setzen erstmals Giftgas als Massenvernichtungswaffe ein.
Woodrow Wilson für Frieden (1919): Er beansprucht Hegemonie für die weiße Rasse, rechtfertigt Sklaverei und würdigt den Ku-Klux-Klan.
António Egas Moniz für Medizin (1949): „Vater der Lobotomie“. Das umstrittene Verfahren soll angeblich Wahnvorstellungen heilen.
Trotz mangelnder Erfahrungen in Chirurgie führt Moniz Hirneingriffe an Patienten ohne deren Zustimmung aus: Sie werden Pflegefälle.
Le Duc Tho und Henry Kissinger für Frieden (1973): Koautoren des Vietnam-Friedensvertrages. Mit Sicherheitsberater Kissinger
eskaliert der Vietnam-Krieg, die USA bombardieren Laos und Kambodscha. Der Nordvietnamese Le Duc Tho, Leiter der militärischen
Aktionen während des Krieges, lehnt den Preis ab - nach dem Friedensvertrag dauert der Krieg noch zwei Jahre.
Aung San Suu Kyi für Frieden (1991): schweigt als führende Politikerin Myanmars zum Völkermord an den Rohingya.
Günter Grass für Literatur (1999): Gibt 2006 bekannt, mit 17 der Waffen-SS angehört zu haben, die doppelte Rune am Uniformkragen der Eliteeinheit
sei ihm nicht anstößig gewesen; im übrigen habe er die Panzerkanone nur nachgeladen, aber nicht abgeschossen.
Harold Pinter (2005): Bush und Blair vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen:
Völkerrechtswidriger Irak-Krieg Banditenakt des unverhohlenen Staatsterrorismus, gedeckt von den westlichen Medien durch eine Art Hypnose der
westlichen Bevölkerung. Beeindruckende Demonstration einer Militärmacht, verantwortlich für den Tod und die Verstümmelung abertausender Unschuldiger.
"Wie viele Menschen muß man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?"
Die Unterdrückung der kurdischen Sprache durch die Türkei bringt ihn zum Theaterstück "Mountain Language" und
Slobodan Milošević verteidigt er öffentlich.
Olga Tokarczuk für Literatur (2018): "Die Jakobsbücher" von 2014 lösen heftigste Reaktionen aus. Tokarczuk
wird mit dem Tode bedroht. Diese Hass-Reaktion hat sich nicht unmittelbar auf das Buch bezogen, sondern auf meine Aussage
im Fernsehen, dass die Polen sich auch den dunklen Kapiteln in ihrer Geschichte stellen müssen. Auch die Polen haben Juden ermordet,
sie haben im Osten kolonialisiert, und die Landbevölkerung musste feudalen Frondienst leisten, der sehr an Sklaverei erinnert. So habe ich das
auch genannt. Das hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Man hat mir dann vorgeworfen, ich würde lügen und mein Land verraten.
Und das Buch widerspricht nun der offiziellen Darstellung eines mono-ethnischen, heldenhaften Polens, in der die Polen immer nur Opfer,
aber nie auch Täter sind.
Peter Handke für Literatur (2019): 1995 ermorden Truppen des bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladić im Massaker von Srebrenica
ungefähr 7000 muslimische Bosniaken. Handke trifft sich 1996 mit Radovan Karadžić, der den Überfall auf die vermeintliche „UN-Schutzzone“ befohlen
hatte und wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie anderer Untaten vom Kriegsverbrechertribunal angeklagt ist.
Man trinkt Pflaumenschnaps, schenkt sich gegenseitig Bücher, plaudert ... und es war wohl auch sonst ein feiner Tag. Karadžic wird 2019 zu lebenslanger
Haft verurteilt. Sein Treffen begründet Handke später mit seinem Wunsch „nach einem höheren Maß an Wahrhaftigkeit“.
Im Laufe der Jahrzehnte macht Handke zynische und menschenverachtende Aussagen zum Zerfall Jugoslawiens.
Mit Ausnahme der Behauptung, die Serben seien „noch größere Opfer als die Juden“ in der NS-Zeit (die er zurücknimmt), sind seine gesammelten
Entgleisungen alle noch zu lesen.
Peter Handkes größter Sieg ist seine größte Niederlage - seit Jahrzehnten ein Superstar der Literaturszene,
brillanter Provokateur und Autor von Weltrang – er galt seit vielen Jahren als aussichtsreicher Kandidat für den Nobelpreis für Literatur.
Nun hat er ihn also bekommen, den wichtigsten und renommiertesten aller Literaturpreise, ist berühmter als je zuvor und in aller Munde,
jedoch nicht so, wie er es gerne hätte.
Zumindest in Europa kennen ihn nun alle, einschließlich jener, die noch nie eine Zeile von ihm gelesen haben – diesen in der Nähe von
Paris lebenden Österreicher slowenischer Herkunft, der das verbrecherische Terror-Regime in Serbien verteidigt und verharmlost hat,
zum Begräbnis des Massenmörders Milošević angereist und dort eine den Verbrecher huldigende Rede gehalten hat.
Marie Colbin - eine der vielen Beziehungen Handkes, er lebt mit ihr in den 1980ern zusammen - schreibt an Handke 2019 einen offenen Brief:
... weiß ich, solange es Männer gibt auf dieser Welt - Männer wie Dich - einäugig, unnachgiebig, machthungrig und Ego-breit -
wird es auch Waffen geben und somit Kriege. Ich höre noch meinen Kopf auf den Steinboden knallen. Ich spüre wieder den Bergschuh im Unterleib
und auch die Faust im Gesicht. Nein, Du bist kein Mann des Friedens!
Alle sagen, Du liebst das Land der Serben. Ich sage: Du liebst vor allem Dich in diesem Land!
Nichts hast du im Vorfeld für den Frieden getan! Warum nicht? Einäugig wütest Du um Dich. Weiter und weiter. Handke - abgelichtet
vor einer bombardierten Fabrik in Belgrad. Oh, welch eitles Getue, welch lächerliches, hohles Pathos! Der Indianer auf Kriegspfad, als letzter
Serbianer. Fühlst Du Dich nun als Held in Deinem ,Einbaum‘ und paddelst so weiter?
Erinnere Dich an unsere Manöver-Geschichte! Vor genau 32 Jahren, am 14. 4. 1987, kurz bevor ich
Dich für immer verlassen habe, gingen wir im jugoslawischen Karst des Weges. Plötzlich wurden wir aufgeschreckt durch rumpelnde Panzer
und lautes Geknalle irgenwelcher Schützen. Wir gerieten mitten in einen gespielten Krieg. Du sagtest damals: ,Im Krieg ist alles besser.
Da geht's um was!' Geht's Dir nun besser, Dichter? Ich glaube beinahe, ja. Irgendwie wirst Du diesem Krieg dankbar sein, denn er befriedigt
auf perverse Weise Dein unstillbares Verlangen nach öffentlicher Anerkennung. Dein Ego bläht sich weit und breit, und es widert mich an.
Wer bist Du denn, daß Du Dich so wichtig nimmst? Bist weder groß, noch edel oder gar bescheiden und aufrichtig.
Ein eitler Schreiber bist Du, der sich sonnt in der Rolle des ,einsamen Rufers'. Nur sind das Rufe nach Zustimmung für ein Verbrecherregime.
Du bist ein Ideologe des modernen Balkanfaschismus.
Marie Colbins Verleger Richard Pils in einer Mail an den SPIEGEL: "Die schreckliche Geschichte mit Handke hat sie zutiefst verletzt."
Mats Malm, neuer Ständiger Sekretär der Akademie, schreibt, darauf hingewiesen, dass Handke die Tat einräume:
"Das wusste ich wirklich nicht. Diese Angaben müssen wir prüfen und auswerten." Nicht nur er,
das gesamte Nobelpreiskomitee habe entschieden, ohne davon Kenntnis zu haben.
Handke selbst spricht in seiner Biografie 2012 darüber so: "... Ich habe ihr einen Tritt in den Arsch gegeben. Ich glaube, ich hab ihr
auch eine runtergehauen. Ich wollte einfach arbeiten, und das ging nicht gut ..."
Prügeln, um in Ruhe schreiben zu können? Was für ein Statement!
Beginn der Rede bei 3:45
Der Ankläger:
"Mich erschüttert, dass so etwas prämiert wird." Saša Stanišić bezieht sich insbeondere auf Handkes Buch "Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise"
von 1996. Dort beschreibt Handke u.a. Višegrad. In der Stadt lebten keine oder zumindest so gut wie keine Muslime mehr.
Entweder waren sie schon vor Jahren geflohen oder ermordet worden.
Als das 1992 geschieht, flüchtet Stanišić - er ist 14 - mit seiner Mutter nach Deutschland. In "Herkunft", dem mitreißenden Roman
mit starken autobiografischen Bezügen, für den er den Buchpreis erhält, schildert er, was davor passiert ist:
Ein Polizist hatte die Mutter gewarnt, den Muslimen gehe es bald an den Kragen.
Der autobiografische Bezug verleiht seiner Kritik ganz besondere Wucht. Stanišić kritisiert Handke nicht allein aus einer
moralischen Position heraus, er kritisiert ihn vor allem, weil er das, was Handke da schildert,
selbst anders erlebt hat. Er habe das Glück gehabt, sagt er bei der Preisverleihung, "dem zu entkommen, was
Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt. Dass ich heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu
verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat".
Von einer Reporterin auf Stanišić angesprochen antwortet Nobelpreisträger Handke: "Ich bin nicht hier, um auf diesen Scheißdreck zu
antworten. Und jetzt verschwinden Sie sofort, bitte." Vier Tage habe er Demütigungen erlebt "von der ganzen Welt".
"Diese Pseudojournalisten. Ich hasse den Journalismus." Von keinem Menschen, der zu ihm komme, höre er, dass er
"irgendetwas von mir gelesen hat, dass er weiß, was ich geschrieben habe".
Jurymitglieder bei der Bekanntgabe des Nobelpreises:
In Zeiten der Desinformation sei Handke ein zögernder, skrupulöser Autor, er thematisiere
die eigenen Zweifel in diesen Büchern beständig, oft benutze er als stilistisches Mittel die Frage.
Saša Stanišić folgert in seiner Preisrede daraus, dass Handke die Verbrechen in Višegrad
leugne und belegt seine These mit dem Satz: "Milizen, die barfuß nicht die Verbrechen begangen haben können,
die sie begangen haben." Als der SPIEGEL Stanišić vorhält, Handke habe diesen Satz nicht geschrieben, antwortet dieser,
das sei kein Zitat, sondern eine Paraphrase dessen, was Handke geschrieben habe. In der Fernsehübertragung ist der
Satz nicht als Paraphrase erkennbar, viele Medien haben ihn als Handke-Zitat wiedergegeben.
Im Buch "Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise" erwähnt Handke "Terror", "Tötungen in der hiesigen Muslimgemeinde" in Višegrad
und den "Genozid von S.", also Srebrenica. Die Verbrechen in den Balkankriegen leugnet er nicht, relativiert sie aber durch Verweise
auf andere Verbrechen. Heute nennt man das Whataboutism.
Es geht um Grundsätzliches:
Kann man einen Autor reduzieren auf einen einzigen Punkt, der ihn angreifbar macht? Ein Experte für Handke, Helmut Böttiger sagt Nein.
Handkes Werk, vor allem aus den 60er-, 70er-, 80er-Jahren, lege nahe, dass man diese Aussagen nicht politisch lesen kann und dass man ihn auf keinen
Fall auf ein öffentliches Statement zu Jugoslawien und Miloševic reduzieren kann.
Böttiger: Und gerade bei Handke ist es wirklich entscheidend, dass man zwischen Autor und Werk, seinen politischen Stellungnahmen
und dem literarischen Werk gar nicht trennen kann, das ist ineinander verwoben. Er hat eine Poetik entwickelt, die nach einer Sprache sucht,
nach einer poetischen Sprache, schon ganz früh. Es gibt ein frühes Drehbuch für Wim Wenders „Falsche Bewegung“, in dem die
beiden Protagonisten einen Dialog führen, und dieser Dialog lautet so: „Wenn nur das Poetische und das Politische eins
sein könnten.“ Und darauf antwortet der andere: „Das wäre das Ende der Sehnsucht und das Ende der Welt.“
Dass das Poetische und das Politische überhaupt nicht vereinbar sind, das ist für Handke von Anfang an ein Grundton
gewesen. Er hat sich immer in dieser poetischen Sprache, in diesem ironischen Elfenbeinturm, bewegt. Und die politische
Standardsprache, die Diskurssprache, das ist etwas, was er durch seine literarischen Texte angegriffen hat. Dieser Jähzorn,
diese Aggressivität, die bei ihm oft zutage tritt, das ist untrennbar verbunden mit seiner poetischen Produktivität -
also die Sehnsucht nach Zwischenzonen, nach Schwellen, nach Bereichen, die nicht auslotbar sind, die auch unentschieden
sind, die aber eine poetische Dimension der Vieldeutigkeit haben. Wenn das gefährdet wird, wenn da eine Zerstörung droht,
dann reagiert er aggressiv, jähzornig, und das ist in seinem Werk auch von Anfang an zu verfolgen.
... In diesen „andersgelben Nudelnestern“ steckt eine Sehnsucht nach etwas anderem,
und das ist von vornherein verständlich oder nachvollziehbar, durch so einen poetischen Begriff, über den man
sich streiten kann ... aber da steckt natürlich etwas dahinter,
was eine konkrete politische Stellungnahme im Grunde gar nicht meint. Das ist eingewoben, diese Serben-Thematik,
in die alte Sehnsucht Handkes nach Jugoslawien, nach dem Kindheitsland – seine Mutter ist ja slowenischer Abstammung.
Dieses nahegelegene Slowenien, diese Minderheitensprache in Österreich und Kärnten, im Grenzgebiet, das war für
Handke eine Sehnsuchtslandschaft und das war Jugoslawien – das hat er auch öfters beschrieben. Und dieses Jugoslawien
wurde zerstört, und das löste seine Reaktion aus, dass ein Märchenland, ein Sehnsuchtsland, eine Kindheitslandschaft
zerstört wird. Politisch kommt der Punkt dazu, dass die westlichen Mächte natürlich die Serben von vornherein als
die Schuldigen ausmachten und die Kroaten als die Guten, und das hat seinen Jähzorn ausgelöst.
Böttiger: ... Der Anstoß war ja die Dankesrede
von Saša Stanišić zum Deutschen Buchpreis.
... Das ist natürlich ein Forum, das sehr stark wahrgenommen wird, der Deutsche Buchpreis, der Autor freut sich und
dankt dann jemandem, aber er benutzt dieses Forum, um den anderen Schriftsteller, der gerade eben den Nobelpreis
bekommen hat, sehr scharf zu attackieren. Das war ihm natürlich bewusst. Ihm war auch bewusst, dass er ein Autor
ist, der sehr viele Sympathien hat. Saša Stanišić, der gilt überall als Charmeur, der wickelt auch das Publikum jedes
Mal um den Finger. ...
Er ist ein großer Sympathieträger, und er wusste, was er in diesem Moment tat.
Er verkürzt ein Gesamtwerk, das den Nobelpreis bekommen hatte, auf einen ganz konkreten politischen Punkt, und das wird
noch dadurch kompliziert, dass Saša Stanišić alles Recht hat als aus Bosnien stammender Autor, da zu reagieren. Und so
vermengen sich bestimmte Dinge, die sehr schwer auflösbar sind. Mein erster Gedanke war bei dieser Dankesrede, Saša Stanišić
twittert zu viel, er verkürzt, weil einfach die 280 Zeichen in seinem Twitter-Eintrag natürlich dazu führen, zuzuspitzen,
zu pauschalisieren, einen Aktualitätstrend zu setzen, und genau das hat er auch in dieser Dankesrede gemacht. Und das wird
natürlich einem Autor wie Handke nicht mal im Ansatz gerecht und verfälscht im Grunde das, worum es gehen sollte, wenn man
über Literatur spricht (Deutschlandfunk 2019).
Der eingangs zitierte empörende, unmenschliche Satz hat Peter Handke zum literarischen Kriegsverbrecher gestempelt. Das Zitat soll beweisen, dass
sein Urheber ein Verbalgrobian ist, ein Wüterich, dem die Opfer des Jugoslawienkriegs gleichgültig sind.
Seit mehr als 20 Jahren wird der Satz zitiert. Erst jüngst haben ihn die Schriftsteller Aleksandar Hemon in der "New York Times" und Jagoda Marinić
auf Twitter wiederholt. Sie beziehen sich auf einen Artikel in der "Irish Times", wo das Zitat im April 1999 erschienen sein soll. "Irish Times"
zitiert Handke auf Englisch. Weil es keine weiteren englischsprachigen Quellen aus diesem Zeitraum gibt, weil die Personen des Textes und sein
Bezugsrahmen aber auf den deutschen Sprachraum verweisen, ist davon auszugehen, dass das Zitat ursprünglich auf Deutsch gefallen ist.
Am 7. März 1999 veröffentlicht "Welt am Sonntag" eine Polemik des österreichischen Publizisten Günther Nenning - verstorben 2006 - unter der Überschrift:
"Handke nach Serbien! Dichter gehören in den Krieg" wo Handke zitiert wird: "Sie können sich Ihre Leichen in den Arsch stecken."
Der SPIEGEL übernimmt das Zitat.
Nenning behauptet, das Zitat sei 1996 während einer Diskussion im Wiener Akademietheater6 gefallen, wo Peter Handke
sein gerade erschienenes Buch "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" verteidigt.
In Zeitungsartikeln über diesen Abend im Akademietheater findet sich ein anderer Satz: "Der Dichter hatte (...) geraten,
sich die Betroffenheit über Bosnien, die er in Handkes Reisebetrachtungen aus Serbien vermisste, 'in den Arsch' zu stecken" -
("Süddeutsche Zeitung" 5. Juni 1996).
Der Mitschnitt: Zitat bei 2:10
Sophie Semin
Im SPIEGEL hieß es, Ihre Frau Sophie Semin habe Sie »bereits vor einiger Zeit verlassen und sich dem hoch gelobten Schauspieler Robert Hunger-Bühler
zugewandt.
Jeder Mensch kennt doch diese Geschichten. Die Frau sagt: »Ich habe ihn verlassen!« Der Mann sagt: »Nein, ich habe sie verlassen!«
Warum muss man so ein Zeug veröffentlichen? »Spiegel«-Redakteure haben doch ihren Whisky, und ihre Frauen sind viel jünger, geiler
und exotischer als meine. Die haben alle rassige Reitpferde, und bei mir läuft höchstens ein kleiner Igel ums Haus herum.
Die kriegen ein Heidengeld bezahlt, sitzen glücklich wie Onkel Dagobert auf ihren Geldhaufen und sagen, wo die Welt langgeht.
Warum sind die total sauer auf mich? Aber vielleicht ist es besser, jetzt schon durchschnüffelt zu werden. Indem es dermaßen ausgebreitet wird,
ist die wahre Geschichte geschützt. Bis jetzt hat uns ja noch keiner zusammen gesehen, oder?
Der Nobelpreis in falschen Händen?
Das meint Alida Bremer, Publizistin aus Kroatien, die seit 1986 in Deutschland lebt.
Sie schreibt:
Unsere Welt ist bisweilen schizophren. Was würde dieses Gefühl besser illustrieren als der Tag, an dem eine aus dem Balkan
stammende und in Deutschland lebende Frau Nachrichten über den Terrorakt in Halle liest, und dann - inmitten all jener Vorahnungen,
die sie als ein déjà-vu erlebt - von der Entscheidung des Nobelkomitees erfährt?
Während Olga Tokarczuk in den deutschsprachigen Medien sofort für ihre kritische politische Haltung gegenüber dem polnischen Nationalismus gefeiert wird,
heißt es bezogen auf Peter Handke, dass das Politische nicht zentral für die Vergabe des Literaturnobelpreises sei.
Der Literat hat seine politischen Ansichten zwar in seine Literatur einfließen lassen, und er wurde nie müde, für diejenigen, die vielleicht
dachten, es handele sich nur um Literatur, seine Thesen auch in Interviews zu bekräftigen, doch die Kritiker müssen sich nun hüten,
diese Vermengung zu kritisieren, anderenfalls haben sie das Wesen des Literarischen nicht begriffen.
Sich auf den Anschlag in Halle beziehend toben die Medien: "Nie wieder! Wehret den Anfängen!"
Anfängen?
"Den Worten folgen Taten!"
Aber offenbar nicht allen Worten, wenigstens wenn es um Handke geht.
Auf die Reaktionen aus Südosteuropa wartete man nicht lange: Während viele bosnischen Muslime die Toten von Srebrenica verunglimpft sehen,
und etliche Kosovaren sich mit ihnen solidarisieren, teilen sich die Kroaten in jene, die "Handkes Werk ist groß, aber..." und jene,
die "er ist ein Tschetnik" sagen.
Währenddessen fühlen sich zahlreiche Serben endlich von der Welt verstanden, aber auch unter ihnen gab es heftige Diskussionen.
Der Autor Dejan Tiago Stankovic schreibt: "Lieber Handke, wir werden dir zwar verzeihen, dass Milošević, der unzählige Menschen in den Tod
trieb, dich für dumm verkauft hat, aber bitte lass dich nicht noch einmal zum Narren halten (...)".
Handkes Aussagen spielen häufig mit politisch unkorrekten Grenzüberschreitungen, die stark polarisieren.
Über MeToo sagte Peter Handke in einem Interview: "Ich kann es nicht mehr hören. Die Frauen, die da die Männer anflammen,
und dann beschweren sie sich." Anflammen? Ungeachtet dessen, was er sagt, sagt er es besonders schön, so seine Bewunderer.
In der ostbosnischer Stadt Višegrad, wo serbische Freischärler eine der ersten ethnischen Säuberungen" an den muslimische Bosniaken verübten,
fragte sich Handke: "Wie konnte solch freihändiger Terror sich austoben gegenüber einer mehrheitlich muslimischen, für den Krieg
längst schon gut gerüsteten, überdies noch die Obrigkeit stellenden Bevölkerung?" Damit stellte er einen Bericht aus der New York Times
in Frage, nach dem die serbischen Milizen in Višegrad Terror ausgeübt hatten. Die Kritik des westlichen Journalismus und der westlichen Demokratien
ist für ihn wichtiger als Fakten.
Damit profilierte sich Peter Handke als einer der ersten, der über die „Lügen der Presse" schrieb und damit auch dem Begriff
"Lügenpresse" den Weg bahnte - ungeachtet der Tatsache, dass auch verschiedene Expertisen die Berichte der Journalisten bestätigten,
und dass 57 Journalisten in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien ihr Leben verloren. Die Tatsachen seien eben nicht entscheidend
für den Balkan, so sagte er einmal in einem Interview, dem Balkan könne man sich "nur durch Fiktion" nähern. Was er dann auch ausgiebig tat.
Einer seiner größten Widersacher war Marcel Reich-Ranicki, der früh verstand, dass die Bewunderer von Handke "eine Art Gemeinde der Gläubigen"
darstellen. Im Jahr 1980 machte Handke ihn in einem Buch zum hassenden, Haufen machenden Hund: "... wie er in seiner von dem Getto vielleicht
noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war". Später sagte er:
"Das wurde mir übel genommen als Antisemitismus, aber da konnte ich auch nur staunen drüber."
Dabei spielte Handke gerne einen Balkan-Experten, der sich allerdings als ein an Fakten nicht interessierter Dichter rechtfertigen kann.
Er nahm den Spruch "Serben alle und überall" ernst und nannte die Kroaten "die katholischen Ustascha-Serben"; er fragte sich,
ob "die serbokroatisch sprechenden, serbisch-stämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten". Und das in einem Text,
in dem er an den Berichten über Srebrenica zweifelte: "Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung (...) wieder nichts als der nackte,
geile, marktbestimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf?"
Hier und da bezeichnet er jemanden als Faschisten (gerne "die Kroaten"), womit seine naturverbundene, vom Westen angeekelte
Attitude eine starke Gerechtigkeitspose bekommt: "Gerechtigkeit für Serbien!" schreibt er. In Rambouillet, wo 1999 die Friedensverhandlungen
zwischen der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien und der politischen Führung der Kosovo-Albaner stattfanden, sagte er:
"Bei den Juden, da gibt es Kategorien, man kann darüber sprechen. Aber bei den Serben - das ist eine Tragödie ohne Grund."
Und ausgerechnet dieser, ob seiner sprachlichen Virtuosität Gefeierte, sagte in einem Interview: "Die scheußlichsten Wörter
der Bundesrepublik kommen von Journalisten". Seine Art, über "die Serben", "die Deutschen" oder "die Juden" als kollektive Subjekte zu sprechen,
hat der bosnische Autor Dževad Karahasan einer treffenden Kritik unterzogen. Ihm stände der Nobelpreis für Literatur viel eher zu als
Peter Handke, genauso wie einem anderen Opponenten Handkes, dem serbischen Autor
Bora Ćosić.
Aber das Nobelpreis-Komitee nimmt die Menschen aus dem Balkan genauso wenig ernst wie der jüngste Preisträger.
Aber wurde nicht alles anders in der Schwedischen Akademie nach den Skandalen?
Mats Malm ist der neue Leiter. Er schweigt zum Missbrauchsskandal um Jean-Claude Arnault, dem Ehemann des Ex-Akademiemitgliedes Katarina Frostenson,
der mehrfach Frauen, selbst Thronfolgerin Viktoria, sexuell belästigt hatte und zusätzlich geheime Namen von Literaturnobelpreisträgern verraten hatte.
Arnault sitzt inzwischen wegen Vergewaltigungen im Gefängnis und seine Frau ist nicht mehr Teil der Akademie.
Die Ernennung Mats Malms zum neuen Ständigen Sekretär soll das Ende der schweren Krise markieren, in welche
die Skandale das Kommitee gestürzt hatten, als deren Konsequenz die Verleihung des Literaturnobelpreises im letzten Jahr abgesagt wurde.
Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten sind alle 18 „Stühle“ der Akademie wieder besetzt, sechs davon von Frauen.
Das, nachdem es noch im letzten Jahr Zweifel gab, ob sich überhaupt Leute finden würden, die ins Skandalhaus einziehen möchten.
Neu sollen bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten für den Preis neben den Mitgliedern der Akademie nun auch fünf
externe Gutachter mitwirken. Unklar bleibt hingegen, wann das Recht auf lebenslange Mitgliedschaft in der Akademie geändert wird.
Mit dem Sinologen Göran Malmqvist (94) und dem Sprachwissenschaftler Sture Allén (90) sitzen weiterhin Mitglieder in der Akademie, die im
Skandal um Frostenson und Arnault unrühmliche Rollen gespielt haben.
Auszug aus Gerrit Bartels Kommentar und seiner
These, dass Literatur nicht unpolitisch sein kann
:
... Naiv war es dabei gerade von der Literaturnobelpreis-Jury, ihre Entscheidung als werkimmanente verstehen zu wollen: Literatur kann
gar nicht unpolitisch sein, bloß Kunst um der Kunst willen. Sie bewegt sich in Sprache und Form und erst recht in der Person ihres Verfassers,
ihrer Verfasserin in einem politischen Raum.
Bei der aus Polen stammenden Olga Tokarczuk ist das exemplarisch: In ihren Büchern lassen sich direkte politische Bezüge nur über Umwege
ausmachen. Als Kommentatorin und Essayistin hat sie in ihrer Heimat jedoch politisch Verantwortung übernommen und klar gegen die
antidemokratischen Vorgänge in Polen Stellung bezogen.
Man muss nun jemand wie Peter Handke gerade wegen seiner Jugoslawien-Verfehlungen nicht den Literaturnobelpreis verleihen,
es gibt genug andere Autoren und Autorinnen, die politisch weniger fragwürdig sind. Doch wie hält man es mit seinen restlichen Büchern,
wie belastet sind diese durch den Einsatz damals für die Serben?
Die Literatur und die Kunst kennen viele solcher Werke, in denen noch das vermeintlich Unpolitischste darin beschädigt wurde durch
zwiespältige politische Einstellungen und Parteinahmen ihrer Urheber und Urheberinnen. Man denke an die Bilder von Emil Nolde
oder an die Bücher des französischen Schriftstellers Céline, beide heftige Antisemiten.
In politisch aufgeladenen Zeiten stellt sich die Frage nach der richtigen Lektüre verstärkt, auch der Preiswürdigkeit von Autoren.
Wie ist es jetzt mit den Büchern von Kamila Shamsie? Der pakistanisch-britischen Booker-Preisträgerin wurde gerade der Nelly-Sachs-Preis aberkannt,
weil sie sich zum propalästinensischen, aber antisemitischen BDS bekennt.
Auch Norwegen, das Gastland der Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr, tut sich schwer mit einem seiner drei Literaturnobelpreisträger,
mit Knut Hamsun. Der war ein glühender Nazi, hatte noch einen flammenden Nachruf auf Adolf Hitler geschrieben, wird andererseits aber immer
wieder aus berufenem Mund als der größte Schriftsteller bezeichnet, den Norwegen je hatte. Man liest ihn, mal offen begeistert, mal verschämt
- ist aber weit davon entfernt, stolz auf ihn zu sein. Weder sind Plätze oder Straßen nach ihm benannt noch ist sein letztes Wohnhaus eine
literarische Pilgerstätte.
Kunst und Politik lassen sich weniger denn je auseinanderdividieren. Eine unpolitische Kunst oder Literatur gibt es selbst dann nicht mehr,
wenn sie das inhaltlich verweigert.
Peter Handkes Reisebericht "Gerechtigkeit für Serbien" von 1996
Zitat:
Und kam es nicht so, bekanntlich mit dem Einrücken der ersten kroatischen Staatsmiliz in die serbischen Dörfer um Vukovar, zu dem Krieg,
zu welchem selber aber jemand wie ich nichts zu sagen hat; denn noch immer gilt eben jenes schreckliche 'Krieg ist Krieg', und das noch
schrecklichere: Bruderkrieg ist Bruderkrieg. Und wer das nun, statt als Gewürgtheit, als Gleichgültigkeit versteht, auch der braucht hier
nicht weiterzulesen. (Gibt nicht die vielfach in deutschen Zeitungen bloßgestellte 'Herzlosigkeit', die wie ostentative, des serbisch-jüdischen
Autors Aleksandar Tisma mit eben seinem 'Krieg ist Krieg' mehr, weit mehr zu bedenken als alle Empörungslippenbewegungen, die erpresserischen,
fern von jedem Urschrei?)
Schlacht um Vukovar
Massaker von Vukovar
„Ich wäre gerne in Serbien, wenn die Bomben auf Serbien fallen. Das ist mein Ort. Ich verspreche Ihnen, wenn die Kriminellen der Nato bombardieren,
komme ich nach Serbien.“ Diese Worte sprach Peter Handke am 18. Februar 1999, als er vom serbischen Fernsehen im französischen Rambouillet
interviewt wurde.
Im Schloss Rambouillet versuchten damals die Verhandler der USA und der Europäischen Union, Christopher Hill und Wolfgang Petritsch,
die jugoslawische Seite dazu zu zwingen, die Provinz Kosovo unter internationale Kontrolle zu stellen und Serbien und Montenegro
zum Aufmarschgebiet der NATO zu machen, damit sich, wie es in Artikel 8 hieß, “NATO-Personal … innerhalb der gesamten Bundesrepublik
einschließlich ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert bewegen können.”
Eine solche Erpressung war unannehmbar, wie auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger seiner Nachfolgerin Madeleine Albright
via Zeitungskommentar ausrichten ließ:
“Von Jugoslawien, einem souveränen Staat, verlangt man die Übergabe der Kontrolle und Souveränität über eine Provinz mit etlichen
nationalen Heiligtümern an ausländisches Militär. Analog dazu könnte man die Amerikaner auffordern, fremde Truppen in Alamo einmarschieren zu
lassen, um die Stadt an Mexiko zurückzugeben, weil das ethnische Gleichgewicht sich verschoben hat”,
schrieb er am 28. Februar in der “Welt am Sonntag”.
Und der jugoslawische Delegationsleiter Milan Milutinović erklärte nach 17 Verhandlungstagen gegenüber der Presseagentur “Tanjug”:
“Es war ein Betrug passiert. Man wollte gar kein Abkommen.
Das ganze Theater war zu dem Zweck arrangiert worden, dass wir Unannehmbares
akzeptieren sollten oder, wenn wir es nicht akzeptierten, Bomben fielen …”
Einen Monat später fielen Bomben auf Serbien und Montenegro. Am 24. März 1999 griff die eben erst um die drei Mitgliedsländer Ungarn,
Polen und Tschechien vergrößerte NATO Jugoslawien an. Der völkerrechtswidrige Überfall erfolgte ohne UN-Mandat. Es war eine kriminelle Tat.
Und Peter Handke stand zu seinem Versprechen. Er fuhr nach Serbien. Schon 1996 war von ihm, mitten in die serbenfeindliche Stimmung
der westlichen Medien und Politik hinein, sein Bericht über eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina erschienen:
“Gerechtigkeit für Serbien“, lautete der Untertitel. Und Anfang 1999 schloss er die Arbeit am Theaterstück “Die Fahrt im Einbaum oder das Stück
zum Film vom Krieg” ab, in dem er sich klar und unmissverständlich gegen die kolonialen Begehrlichkeiten westlicher Militärs, Unternehmen und NGOs
im bosnischen Bürgerkrieg ausspricht. Claus Peymann inszenierte die Uraufführung am Wiener Burgtheater am 9. Juni 1999, ausgerechnet an jenem Tag,
an dem im makedonischen Kumanovo ein Vertrag zum Abzug der jugoslawischen Volksarmee aus dem Kosovo unterzeichnet wurde.
Nach dem Krieg wurde Handke am 15. Juni 1999 ein jugoslawischer Pass ausgestellt. Obwohl dieser Pass in Form einer Kopie im Online-Archiv
der österreichischen Nationalbibliothek seit Jahren zu bestaunen ist, erregt sich die Journaille nun erst darüber, um das Bild
von Peter Handke als Freund einer blutrünstigen Serbendiktatur zu zementieren. “Das Milošević-Regime stellte dem Literatur-Nobelpreisträger
1999 einen Pass aus”, heißt es beispielsweise am 8. November in der Wiener “Die Presse” – noch dazu in Verdrehung der Zeitenfolge,
war doch Handke im Jahr 1999 der Literaturnobelpreis noch lange nicht verliehen worden. Und der liberale “Standard” stichelt weiter
und titelt am selben Tag: “Warum Peter Handke vielleicht kein Österreicher mehr ist”. Die Handke-feindlichen Medien treiben die Behörden vor
sich her. Weil Doppelstaatsbürgerschaften in Österreich nur in Ausnahmefällen erlaubt sind, muss nun geprüft werden, ob Handke vielleicht 1999
automatisch die österreichische verloren hat. Der sozialdemokratische Landeshauptmann von Kärnten, dem Heimatbundesland des Nobelpreisträgers,
hat nun offiziell ein “staatbürgerschaftliches Ermittlungsverfahren” gegen Handke eingeleitet. So gehen Politik und angebliche Qualitätsmedien
im Land der Künste mit ihrem eben erst mit höchsten Ehren ausgezeichneten Literaten um.
Sie können es ihm nicht verzeihen, dass Peter Handke in den 1990er Jahren nicht nur den Zerfall Jugoslawiens bedauert hat, sondern der
damals vergleichsweise vernünftigsten Kraft, Slobodan Milošević, nahe gestanden ist. Am Grab des nach Den Haag Verschleppten und dort ohne eine von ihm gewünschte medizinische Behandlung
zu Tode Gekommenen brachte Handke seine Sicht der Jugoslawien-Krise indirekt zum Ausdruck. Dieser 18. März 2006 wird noch heute skandalisiert.
Damals sprach Handke auf dem Begräbnis von Miloševic in dessen Geburtsstadt Požarevac die folgenden Worte (auf Serbo-kroatisch):
“Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milošević.
Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwesend, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier.
Die sogenannte Welt ist nicht die Welt. (…) Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue, ich höre. Ich erinnere mich. Ich frage.
Deswegen bin ich heute anwesend, nah an Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan Milošević.”
Es war die “Washington Post”, die zum Halali auf Peter Handke blies. Noch am selben 10. Oktober 2019, als die schwedische Akademie die
Verleihung des Literaturnobelpreises bekannt gab, ließ sie im Titel ihres Berichtes anklingen, dass es sich bei Handke um einen
“Apologeten des Völkermordes” handelt könnte. Und die Woche darauf überschrieb sie den prominent platzierten Kommentar des Präsidenten
der kosovo-albanischen Kunstakademie Mehmet Kraja mit der Zeile “Warum wurde der Nobelpreis an einen Mann vergeben, der einen Kriegsverbrecher
feiert?” Die meinungsbildenden deutschsprachigen Medien apportierten den Ruf aus Washington und stießen in dieselbe Kerbe,
wie die NachDenkSeiten etwa in diesem Artikel beschrieben haben.
Um zu verstehen, woher dieser Hass auf Serbien, Milošević und – zuletzt – Handke kommt, müssen wir uns den Ablauf der Ereignisse im
Zerfallsprozess Jugoslawiens und dessen handelnde Personen in Erinnerung rufen. Die erste vom Westen betriebene Feindortung in Bezug auf Slobodan
Milošević fand zum Jahreswechsel 1990/1991 statt.
Der Internationale Währungsfond (IWF) hatte das ganze Jahr 1989 dabei zugesehen, wie eine 1000-prozentige Hyperinflation sämtliche
Dinar-Sparguthaben vernichtete, um im ersten Halbjahr 1990 ein rigoroses Sparpaket aufzulegen, das die bereits zuvor in Lateinamerika erprobten
Eckpfeiler aufwies: restriktive Geldpolitik, Abbau von staatlichen Subventionen und Sozialleistungen, Öffnung des heimischen Marktes für
ausländische Investoren sowie eine Privatisierung von Betrieben, die sich im staatlichen und/oder gesellschaftlichen Eigentum befanden.
Die Namensgeber für diese Schocktherapie hießen Jeffrey Sachs vom IWF und
Ante Marković, der letzte Ministerpräsident Jugoslawiens.
Milošević, eben mit 65-prozentiger Zustimmung im Amt des Präsidenten der Teilrepublik Serbien bestätigt, unterlief diesen Plan,
indem er für umgerechnet 16 Milliarden Dollar Dinar drucken ließ und damit die serbischen Staatsangestellten – Militärs, Lehrer,
Krankenhauspersonal etc. – bezahlte. Jeffrey Sachs war empört, brach seine Zelte in Belgrad ab, zog nach Ljubljana und später
nach Warschau. Der gelernte Jurist und Banker Milošević hatte sich mit dem Anwerfen der Notendruckmaschine im Westen über Nacht unbeliebt
gemacht.
Nun gingen vor allem Deutschland und Österreich daran, die nationalen Fliehkräfte Jugoslawiens zu unterstützen. Besonders hervor
taten sich dabei die beiden Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Alois Mock (ÖVP). Wer waren nun ihre Partner vor Ort?
Es waren vor allem kroatische und bosnisch-muslimische Sezessionisten, auf die sie setzten; wobei die historische Parallele
zu den 1940er Jahren in Serbien präsent war und in Deutschland tot geschwiegen wurde.
In Kroatien unterstützte die deutsche und österreichische Außenpolitik Franjo Tudjman. Er war im Mai 1990 zum Präsidenten der Teilrepublik
Kroatien gewählt worden und galt nun als Held der Demokratie und der freien Marktwirtschaft; für letztere trat er heftig ein.
Während des Titoismus musste der ausgebildete Historiker wegen nationalistischer und “konterrevolutionärer Umtriebe” zwei Mal
ins Gefängnis.
Knapp vor dem kroatischen Unabhängigkeitsreferendum im Mai 1991 zeigte Tudjman, was er unter kroatischem Nationalismus verstand.
Am 2. März 1991 schickte Tudjman kroatische Nationalgardisten (eine Armee gab es noch nicht) in die mehrheitlich von Serben bewohnte
slawonische Stadt Pakrac. Diese zwangen die örtlichen serbisch-stämmigen Polizisten, auf ihrer Polizeistation die neue Fahne
der noch von niemandem anerkannten “Republik Kroatien” zu hissen: das aus der faschistischen Ustaša-Zeit bekannte Schachbrett.
Im Westen stieß sich niemand daran. Auch Tudjmans antisemitische Ausfälle wurden in deutschen und österreichischen Medien tunlichst übergangen.
Sein 1993 ins Deutsche übersetztes Buch “Irrwege der Geschichtswirklichkeit” strotzt nur so vor Verharmlosungen des faschistischen
Ustaša-Regimes und schreibt die Zahl der Opfer im KZ Jasenovac klein. Die sechs Millionen ermordeter Juden während des
Nationalsozialismus findet Tudjman darin “emotional übertrieben”. Sein Außenminister Zvonimir Separović ließ anlässlich eines
Interviews durchblicken, warum der Antisemitismus von Tudjmans HDZ-Partei im Westen keine Thema wurde: “Die serbische Lobby in
der Welt ist gefährlich, da sie mit jüdischen Organisationen zusammenarbeitet.” Damals, in den frühen 1990er Jahren,
konzentrierte sich der Westen auf seine Feindschaft zu Serbien. Mit hehren Ansprüchen wie dem vielfach postulierten Kampf
gegen den Antisemitismus konnte man es dabei nicht so genau nehmen.
Der bosnisch-muslimische Verbündete des Westens, Alija Izetbegović, war auf seine Art noch rechtsradikaler als Tudjman. Im Zweiten Weltkrieges
schloss er sich den Mladi Muslimani an, einer der ägyptischen Muslimbruderschaft nahe stehenden Organisation, die den deutschen Vormarsch und
die Ustaša-Regierung in Kroatien nutzte, um ihrerseits eine muslimische Kraft gegen Titos Partisanen zu bilden. Im Jahr 1970 erschien
dann Izetbegović’ Hauptwerk, die “Islamische Deklaration”. Darin beschreibt er die zukünftig gewünschte Gesellschaftsordnung unter
muslimischen Vorzeichen folgendermaßen:
“Die erste und vorrangigste (Erkenntnis) ist sicherlich diejenige von der Unvereinbarkeit des Islams mit nicht-islamischen Systemen.
Es kann keinen Frieden oder keine Koexistenz zwischen dem islamischen Glauben und den nicht-islamischen Gesellschaften und politischen
Institutionen geben.”
Sowohl für die Mitgliedschaft bei den “Jungen Muslimen” als auch für die Veröffentlichung der Islamischen Deklaration verbrachte Izetbegović
mehrere Jahre in titoistischen Gefängnissen. Der Westen, allen voran französische Medien und Intellektuelle wie die Philosophen
Bernard-Henry Levy oder André Glucksmann, sahen in Izetbegović hingegen den Retter der Demokratie auf dem Balkan, mehr noch:
Ihr Schlachtgesang während des bosnischen Bürgerkrieges lautete: „Wir können siegen, daher müssen wir siegen! Ja oder nein zur europäischen
Zivilisation!” Deren Schutzherr vor Ort hieß Alija Izetbegović.
So waren sie also gestrickt die Partner des Westens im zerfallenden Jugoslawien: der die Schachbrett-Fahne der Ustaši schwingende
Tudjman und der Muslimbruder Izetbegović. Und dann kam im März 1999 der Angriff der NATO auf die Reste Jugoslawiens. Der finale Akt
der Zerstörung, auf dass forthin kroatischer Nationalismus, bosnischer Islamismus und albanischer Nationalismus an die Stelle des
ehemaligen Vielvölkerstaates treten mögen. In einem solchen Moment, kurz vor dem Abheben der NATO-Kampffliegerstaffeln
trat Peter Handke vor die Öffentlichkeit und ließ jeden, der es hören wollte, seine Verachtung für diese Politik und diesen
Militäreinsatz wissen. Mit leiser Stimme zwar, wie gewohnt, aber mit Nachdruck. Seine Solidarität mit dem von NATO-Bomben
geschundenen Serbien nötig Respekt ab. Nicht trotz dieser hat er den Literaturnobelpreis verdient, sondern deswegen.
Hannes Hofbauer in NachDenkSeiten
Peter Handkes balkanesische Friedensepik
Seit der Bekanntgabe der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke fragen sich politische Kommentatoren, die von Literatur wenig Ahnung haben,
aber auch Kollegen des Autors, ob er diesen Preis denn «verdiene». In vielen Fällen ist die Antwort ein erbostes Nein. Gut ...
Aber wer verdient eigentlich diesen Preis, und was geht uns Autoren das an, zumal dann, wenn wir selbst gerade einen stattlichen Preis erhalten?
Hat Winston Churchill ihn verdient? Günter Grass, der ehemalige Waffen-SSler (als Siebzehnjähriger am Ende des Kriegs)? Vargas Llosa,
ein grossartiger Romancier in jungen Jahren, der seit langem nur noch Konfektionsware liefert? Bob Dylan, der (einst) magische Dichter-Sänger?
Elfriede Jelinek mit ihren ewigen Kalauern? Harold Pinter, der Milosevic verteidigte?
Ich vermenge bewusst politische und literarische Einwände. Und übertreibe. Denn wenn ich durch näheren Kontakt mit - ja! - grossen Autoren,
unter ihnen Peter Handke, etwas gelernt habe, dann dies: Sie kochen alle mit Wasser. Und keiner ist perfekt, ein Shakespeare wird nicht mehr geboren.
Aber von Shakespeare wissen wir nicht, wer er war. Womöglich hat er nicht existiert.
Alfred Nobel, der Chemiker und Erfinder des Dynamits, schrieb 1895, im Jahr der ersten Filmvorführung, in seinem Testament, der Literaturnobelpreis
sei an einen Autor zu vergeben, der in «einer idealen Richtung» tätig sei (idealisk rigtning auf Schwedisch). Gemeint sein dürfte «idealistisch»,
«auf ein Ideal bezogen». Als Richtschnur für die Vergabe des Preises wird sie heute in dieser Form nicht dienen können. Wo fände sich etwa bei Jelinek,
deren Nobelpreis Handke 2004 freudig begrüsste, während sie meinte, Handke würde ihn eher «verdienen» als sie, etwas wie Idealismus? Nirgends.
Wenn heute ein Autor noch in einer idealen Richtung schreibt, dann ist es Peter Handke.
Er hat seine Wahrnehmungskunde, seine Ästhetik (im Sinne der griechischen aisthesis), 1979 in «Die Lehre der Sainte-Victoire» dargelegt, einem Buch, das zur Tetralogie «Langsame Heimkehr» gehört.
Die nachfolgenden Werke, im Grunde genommen bis hin zur «Obstdiebin» von 2017, gründen sich auf diese Ästhetik, die zugleich eine Ethik ist,
ein Lebensideal der Aufmerksamkeit für Formen und Dinge. Eine ethische Ästhetik, die sich von der langen Tradition kriegs- und eroberungsbezogener
Epik (seit Homer) absetzen und den Frieden spannend machen will. Handke knüpft dabei neben Cézanne, auf den sich der Buchtitel bezieht, auch an
Adalbert Stifter an.
Ja, dem Maler Paul Cézanne verdanke ich es, dass ich an jener freien Stelle zwischen Aix-en-Provence und dem Dorf Le Tholonet in den
Farben stand und sogar die asphaltierte Straße mir als Farbsubstanz erschien … so habe ich Bilder wohl von Anfang an als bloßes Zubehör
gesehen und mir von ihnen lange nichts Entscheidendes erwartet.
handke hat keineswegs, wie die Diskussionen rund um die Nobelpreisverleihung suggerieren, nur über Jugoslawien geschrieben. Er hatte «sein» Slowenien
fast (fast, denn irgendwo war es immer präsent, schon «Die Hornissen», sein erster Roman, enthält Gebetspassagen in slowenischer Sprache) vergessen,
war durch die Pop-Kultur geprägt, hatte sich Amerika angesehen und zwei «amerikanische» Romane geschrieben, später in Paris Wohnung genommen,
wo «Die linkshändige Frau» spielt und ebenso «Die Stunde der wahren Empfindung», während er sich in «Wunschloses Unglück» und in «Die Angst des
Tormanns beim Elfmeter» der österreichischen Provinz zugewandt hatte. Ausserdem, nicht zu vergessen, hatte er Sprachkritik, Sprach(de)konstruktion
betrieben und früh auch schon Medienkritik.
Dann aber, etwa gleichzeitig mit seiner klassischen, seiner «idealen» (nehmen wir das Wort in den Mund) Wende, taucht Slowenien wieder auf,
die Herkunft aus einer österreichischen Gegend mit slowenischer Bevölkerung, die Vorfahren mütterlicherseits, der im Krieg gefallene, zweifellos im
Nachhinein idealisierte Onkel und der Grossvater, der 1920 bei der Abstimmung für das jugoslawische Königreich votierte, sozialistische Ideen hegte
und hin und wieder in Jähzorn fiel wie später der «weltberühmt gewordene» Autor selbst (wenn er beim Arbeiten gestört wurde oder in Auseinandersetzungen
mit Vertretern der Massenmedien geriet).
1986 veröffentlichte Handke «Die Wiederholung», meines
Erachtens ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen und sicher eines seiner gelungensten.
Hier begibt sich der jugendliche Erzähler auf die Suche nach seinem verschollenen Bruder Filip Kobal, der in Maribor den Obstbau erlernen sollte.
Die Tetralogie «Langsame Heimkehr» ist für den Autor Handke eine Heimkehr ins slowenische Gebiet, das ihm – Anspielung auf ein regionales Märchen –
zum Neunten Land wurde.
Von dieser Realutopie, die er in der Karstlandschaft, aber auch im Jaunfeld (Schauplatz des – ja! – antifaschistischen Partisanendramas «Immer noch
Sturm» von 2010) vorfand, verabschiedete sich Handke, nachdem das Land aus dem alten Staatenbund ausgetreten war. Damit begannen nicht nur die bewaffneten
Kämpfe auf dem Gebiet Jugoslawiens und die damit verbundenen Greuel, es begannen auch Handkes Dissidenz, seine Frontstellung gegen den Mainstream der
Massenmedien und der westeuropäischen Politiker, die Diskussionen und die Verteufelungen seiner Person, seine politischen Obsessionen und gelegentlichen
Wutausbrüche. Dass er sich auf die Seite der Serben schlug, Slowenien gleichsam durch den letzten Hort Jugoslawiens ersetzend, ist konsequent, es hat eine
innere Logik und einen Hauch von Tragik.
Es war der einzige Partisanenkampf innerhalb des Dritten Reiches. 1941 schlossen sich im Bundesland Kärnten im Süden Österreichs Mitglieder der
slowenischen Volksgruppe zu bewaffneten Kadern zusammen. Bauern, junge Frauen, aber auch zwangsrekrutierte Soldaten auf Heimatbesuch flohen in die
Wälder, um dem deutschen Militär Widerstand zu leisten. Ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs, dem Österreich nach der Kapitulation die
Unabhängigkeit verdankte - und das dennoch in Vergessenheit geraten ist.
Handke, selbst unehelicher Sohn einer Kärntner Slowenin und eines Wehrmachtssoldaten, schreibt seine Familiengeschichte auf. Und verwebt
geschickt Wahrheit mit Fiktion. Das wortgewaltige Epos ist als Zeitreise konzipiert. Ein namenloser Ich-Erzähler gedenkt der verstorbenen Verwandten.
Vor seinem geistigen Auge laden die Ahnen zum Gespräch ein:
Die Großeltern, die den kleinen Bauernhof beackern, Patenonkel Georg, ein begnadeter
Apfelzüchter, seine Brüder Valentin und Benjamin, beide mit dem Drang der Jugend, die Heimat zu verlassen, die finster dreinblickende Tante Ursula,
von allen wegen ihrer tristen Art ausgegrenzt. Und schließlich die eigene Mutter, "blutjung" und mit einem Übermut gesegnet, der sie in die Arme eines
Deutschen treiben wird.
Eine Familie, deren Unrecht darin besteht, "hier geboren zu sein". Hier, das ist das Jaunfeld in Kärnten. Ein Tal zwischen den Saualpen und den Karawanken,
unmittelbar an der slowenischen Grenze. Eine "gottverlassene Gegend", wie Finstertante Ursula sagt. Und dennoch genug Heimat, um sie gegen andere zu
verteidigen. "Lepa Koroska" nennen die Ahnen ihr Zuhause. "Schönes Kärnten". Die weibliche Form im Slowenischen verwandelt das Land in eine Geliebte.
Der titelgebende Sturm ist das Weltgeschehen, welches das Familienband kräftig durchrüttelt. Die Onkel des Erzählers werden zum Militärdienst einberufen.
Zwei fallen an der Front, einer schließt sich den "Grünen Kadern" an. Und steigt gemeinsam mit Tante Ursula zum Résistance-Kämpfer auf.
Nach dem Sieg hoffen die Kämpfer auf Anerkennung von Seiten Österreichs - und werden erneut geächtet. So kommt der einzige überlebende Onkel zu einem
düsteren Fazit: "Wir haben doch verloren. Sind kein Thema. Und auch kein Stoff zum Träumen."
Was Handke auf dem Fundament seiner um 1980 erarbeiteten Ästhetik zu schaffen versuchte, war eine Friedensepik, die sich vom geläufigen Genre des Romans
und damit auch vom Literaturbetrieb absetzt: Nicht einmal «Die Wiederholung» wird als Roman bezeichnet, «Mein Jahr in der Niemandsbucht» als «Märchen aus
den neuen Zeiten».
Und dieses breite, langsame, umschreibende, für manche Leser und Kritiker schwer geniessbare Erzählen, das man als Liebhaber solcher Literatur freilich
schon aus Stifters «Nachsommer» kennt, strebt immer wieder zu einem manchmal geheimen, manchmal offen benannten Ort, einem selbstgeschaffenen, imaginierten
Balkan, der die verlorenen Neunten Länder ersetzen soll. Realutopien, die sich nun oft in Spanien finden, zuweilen auch in Österreich, und immer noch
an der Morawa, in irgendeiner – ja, gewiss! – idealisierten Enklave.
Laut Novalis ist es Aufgabe der Poesie, zu «idealisiren». Ebendies wird Handke heute mit anschwellender Empörung, die sich im Hassnetz noch einmal und
tausendfach überschlägt, vorgeworfen. Von den «dunklen Seiten der Romantik» schwafelte eine Autorin. Ach, wie böse! Handke deklarierte schon 1966, als
Vierundzwanzigjähriger: «Die Literatur ist romantisch!»
Eine waldige Vorstadtgegend. Ein Jahrzehnt dort. Dann das Jahr. Sieben ferne Freunde. Eine verschwundene Frau. Wer? Wer nicht? Wo? Wo nicht?
Der Bahnhofsplatz mit dem Baum, worin die Vögel schlafen. Die Bar der Reisenden. Die Jahreszeiten. Die Pilze. Die Wanderarbeiter. Die Nachbarn.
Die Grillen. Kriege, Vulkanausbruch, heiße Quellen. Ein Steinmetz aus dem Mittelalter. Ein kleinlicher Prophet. Das Kind namens Vladimir.
Die Fabel vom Lärmmacher, der gesteinigt wird von den Ureinwohnern. Die blaue russische Kirche am Waldrand. Und dann das Wiedersehensfest mit den
Freunden in einer Winterrauhnacht kurz vor dem neuen Jahr.
Nichts für den Mainstreamleser. Die "Niemandsbucht": ein Fazit, ein Sichvergewissern dessen,
was war. Aber auch ein Abschied. Der Abschied des Lebens im Sichtbaren, zugleich das Vortasten zu dem, was stattdessen geblieben ist. Vom Erfolg,
Ruhm, Liebe, Zwischenmenschlichen... und was bleiben könnte. Handke verknüpft den Blick, um die sogenannte Realität mit dem Innenleben zu verknüpfen -
nicht wertend, doch daran leidend. Einer der Genialsten unserer Zeit!
Die Reiseberichte aus der Zeit der Jugoslawienkriege und der Folgejahre halte ich nicht für seine Meisterwerke, die Umschreibungsgeste wirkt da eher
wie ein Ausweichen. Es sind aber keineswegs Ausrutscher, wie man überhaupt betonen muss, dass Mensch und Werk gerade bei Handke eben nicht zu trennen
sind. Diese Reiseberichte gehören in den Kontext der Friedensepik, so absurd dies vor dem Hintergrunddröhnen der gegenwärtigen Nobelpreisdiskussionen
klingen mag.
Handke versucht hier, den Ereignissen auf den Grund zu gehen, Ursachen der Streitigkeiten bis hin zu den Massakern ausfindig zu machen; er gibt auch,
was gern überlesen wird, seinen Zweifeln nach und hinterfragt als der Sprachkritiker, der er von jeher auch ist, Floskeln und hingestreute Behauptungen.
Vor allem aber bringt er eine andere, im buchstäblichen Sinn abseitige Sichtweise ins Spiel, Wahrnehmungsalternativen zur Flut journalistischer Texte,
die allzu oft von vorgefertigten Meinungen ausgehen, anders als der hinterfragende Dichter, der sich plötzlich auf der «falschen» Seite wiederfand und
in politische Meinungsgefechte verstrickt wurde, die er als Bewohner des Elfenbeinturms eigentlich meiden wollte.
Gab es, in politischer und militärischer Hinsicht, denn eine
gute Seite? Handke wollte es glauben, begann aber, davon bin ich überzeugt, im Lauf der Zeit
zu schwanken. Nein, es gab keine gute Seite; deshalb warf er in politikfixierten Interviews immer wieder die Namen Tudjman und Izetbegović
in die verbale Schlacht, damit nicht allein Milošević als der grosse Diktator erschien.
Was die damals auf allen, wenngleich am schlimmsten auf der serbischen Seite begangenen Greueltaten betrifft, so spürt man förmlich Handkes Ungläubigkeit
vor Ort. Er ringt sich dazu durch, die Massaker von Srebrenica als Akte der Rache anzuerkennen. «Für die Rache gilt kein Milderungsgrund», so steht es da,
schwarz auf weiss. Die Crux dabei ist, dass Handke einem Denken nicht entkommt, in dem Gewaltakte zwangsläufig Rache zur Folge haben. Diese Kette müsste
dann schicksalshaft immer weitergehen. Und sie zwingt dem Einzelnen die Zugehörigkeit oder das Bekenntnis zu einem bestimmten Volk auf. Nur seine
realutopische, balkanesische Friedensepik kann Handke aus dieser Zwangslogik hinausführen.
Aber verdient er nun den Nobelpreis oder nicht? Blöde Frage, blöde Antwort: Mir doch egal! So ist das nun einmal mit Preisen, meistens siegt der
Mainstream, manchmal nicht, die Regel braucht Ausnahmen. «Den Nobelpreis sollte man endlich abschaffen», sagte Handke 2014 – und freute sich mit
seinem Freund Patrick Modiano, von dem er, lang war’s her, einen Roman übersetzt hatte. Widersprüchlich, ja, aber diese Haltung kann immer noch gelten.
Leopold Federmair (Buch über Peter Handke: «Die Apfelbäume von Chaville»)
in NZZ
Srebrenica
Das Massaker von Srebrenica - größtes Verbrechen in Europa gegen die Menschlichkeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Serbische Nationalisten haben, angeführt von ihrem politischen Führer, dem bosnischen Serben Radovan Karadžić im Laufe des Bürgerkreigs bald
mehr als zwei Drittel von Bosnien und Herzegowina unter Kontrolle. Sie vertreiben Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen aus diesen Gebieten,
unterstützt von der serbischen Republik unter Präsident Slobodan Milošević.
Srebrenica, ein kleiner Ort im Osten von Bosnien und Herzegowina nahe der Grenze zu Serbien, ist nach Ausbruch des Bürgerkriegs
Zufluchtsstätte vor allem für bosnische Muslime. Die Vereinten Nationen erklären das Gebiet zur UNO-Sicherheitszone ("safe area"),
in der 350 niederländische Blauhelm-Soldaten die Sicherheit gewährleisten sollen. Ihre Rolle und die ihres Kommandanten Thomas Karremans
bei dem Massaker ist bis heute umstritten.
Am 11. Juli nehmen unter Führung von Ratko Mladić die Armee der Republika Srpska (Vojska Republike Srpske, VRS), die Polizei
und serbische Paramilitärs Srebrenica ein, als sich zu diesem Zeitpunkt dort unter 42.000 Zivilisten ungefähr 36.000 Flüchtlinge aufhalten.
Mehrere Tausend von ihnen versuchten durch Wälder in bosnisch-muslimisch kontrollierte Gebiete zu entkommen. Andere wollten sich auf der
UN-Basis im sechs Kilometer entfernten Dorf Potocari in Sicherheit bringen. Am Abend des 11. Juli drängen sich etwa 25.000 Menschen auf dem
Gelände der ehemaligen Batteriefabrik, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Alte. Nahrung und Wasser werden knapp.
Von Srebrenica rücken die Einheiten unter der Führung von Mladic bald nach Potocari vor. Am 12. und 13. Juli beginnen die Soldaten, Frauen und Männer
zu trennen unter der Vorgabe, nach Kriegsverbrechern zu suchen. Sie transportierten die Frauen und Kinder auf Lastwagen und in Bussen bis kurz vor
bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet. Die zurückgebliebenen Männer, mehr als 8.000, die meisten von ihnen im wehrfähigen Alter,
ermorden Mladić' Männer systematisch an verschiedenen Orten und verscharren sie. Um den Massenmord zu verschleiern,
heben die Täter einige Gräber später wieder aus und verteilen die menschlichen Überreste auf andere Gebiete - das Umbetten der Leichen geschieht
auch nach Ende des Krieges.
Gegen 161 hochrangige Politiker, Militärs und Polizeiangehörige der verschiedenen Parteien des Jugoslawienkonflikts
hat der Internationale Strafgerichtshof Anklage erhoben, gegen 20 vor ihnen wegen der Verbrechen in Srebrenica, darunter der serbische Präsident
Slobodan Milošević, der im März 2006 starb, bevor ein Urteil gefällt werden konnte. Karadžić wurde nach jahrelanger Flucht
gefasst und in Den Haag am 24. März 2016 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der für das Massaker hauptverantwortliche Mladić wird 2011 gefasst und am 22. November 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Eine von Großbritannien 2015 im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution, wonach das Massaker als Völkermord einzustufen sei, trifft auf Widerstand
der serbischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina. Sie weigert sich, das Massaker als Genozid zu bezeichnen. In der Abstimmung über die
UN-Resolution legt Russland als einziges Land sein Veto im Uno-Sicherheitsrat ein; zehn Länder stimmen für das Papier und
vier enthalten sich. Durch das Veto ist die Resolution abgelehnt.
Und Peter Handke?
Vor kurzem stößt Vahidin Preljević, der an der germanistischen Abteilung der Universität Sarajevo lehrende Professor, im Internet
auf ein Interview, in dem sich Handke ausführlich zum Massaker von Srebrenica äußert. Im Original ist das Interview in der Zeitschrift „Ketzerbriefe“
im Ahriman-Verlag erschienen, der auch zwei Bücher über Jugoslawien von Handkes Gesprächspartner verlegt, die Handke offensichtlich bekannt sind,
er erwähnt sie in dem Interview. Eines davon heißt „Srebrenica wie es wirklich war“ (in 3. Auflage von 2018: Alexander Dorin, Zoran Jovanović)
Zu dem Gespräch kam es im Januar 2011 in Paris. Ob eine Tonbandaufzeichnung davon existiert, geht aus dem 11-seitigen Text nicht hervor.
Der zum Teil umgangssprachliche Duktus legt aber nahe, dass es sich um die Abschrift eines Tonbands handeln könnte, zumal hervorgehoben wird,
das Gespräch sei „in Auszügen“ wiedergegeben. Der Titel der Ausgabe lautet „Viel Lärm um Srebrenica“, gibt also mit Shakespeare die Richtung vor:
In Srebrenica war nichts. Handke hebt anfangs zu seiner bekannten Kritik an der Jugoslawien-Berichterstattung westlicher Medien an:
„Da kommt einer vom ,Spiegel‘ von Hamburg aus für zwei Tage, trinkt ein paar Whisky und lässt sich von Dolmetschern, die keine überzeugten Serben waren,
irgendetwas erzählen, und keiner versteht die Sprache des Landes.“ Zwar ist die Kritik an sprachunkundigen Reportern aus dem Munde eines Dichters,
der ganze Bücher geschrieben hat über ein Land, dessen Sprache er nicht beherrscht, und der die wenigen serbischen Zitate darin mit hoher Treffsicherheit
falsch schreibt, durchaus mutig.
Ihm komme es so vor, als sei Srebrenica „ein Racheakt von serbischer Seite gewesen. Nicht, dass ich es verurteilen würde, aber ich kann es auch nicht
uneingeschränkt gutheißen.“ Sind hier Worte vertauscht? Wollte Handke sagen, er könne das Massaker nicht gutheißen, aber auch nicht
uneingeschränkt verurteilen? Demnach heißt Handke den Massenmord an mehreren tausend Menschen gut, wenn auch nur eingeschränkt.
Dafür, dass es sich dabei nicht um einen Lapsus Linguae handelt, sprechen andere Aussagen im Interview.
Das Übelste an Srebrenica halte er „für konstruiert“. Der amerikanische Präsident Clinton und der bosnische Muslimführer Alija Izetbegovic
hätten schon 1993 „einiges ausgemauschelt. Aber ich frage mich: wie konnte man das serbische Militär in diese Falle locken?“
Doch ein Racheakt?
Matthias Fink, durch sein 1000 Seiten umfassendes Werk „Srebrenica. Chronologie eines Völkermords“ wohl einer der besten Kenner des Großverbrechens,
weist nach, dass Bosniaken, also hungernde und eingeschlossene bosnische Muslime, im Winter 1992/93 bei Raubzügen in serbische Dörfer der Umgebung
von Srebrenica mehr als 1200 serbische Zivilisten töteten, einige auf fürchterliche, bestialische Weise.
Was Handke unterschlägt: Die mörderischen Ausfälle aus der Enklave Srebrenica führten Menschen aus, die erst
durch die verbrecherische Kriegs- und Vertreibungspolitik der militärisch weit überlegenen serbischen Streitkräfte im Osten Bosniens in
ihre verzweifelte Lage geraten waren. Und später fragt Handke dann auch noch, ob die (später alle erschossenen) „moslemischen Soldaten“ in Srebrenica
nicht einfach nur „heim zu Mama“ wollten, um daraufhin die „sogenannten“ Mütter von Srebrenica zu verhöhnen: „Denen glaube ich kein Wort, denen
nehme ich die Trauer nicht ab“.
"Clarifcation" des Suhrkampverlags
Fernsehinterview mit Preljević
Die Serbenrepublik Republika Srpska (RS), entstanden 1995 im Friedensabkommen von Dayton als Teil von Bosnien und Herzegowina,
umfasst das Territorium, das bosnisch-serbisches Militär und Paramilitär während des Bosnienkriegaes „ethnisch säubern“ wollten mit dem Ziel,
die muslimische Bevölkerung dauerhaft aus dem Gebiet zu entfernen. Die Serben ermorden unter den Augen niederländischer UN-Truppen
in Srebrenica und anderen Orten systematisch muslimische, männliche Jugendliche und Männer und vertreiben Frauen und Kinder.
2001 stuft das Haager UN-Tribunal diese Taten im Urteil gegen den bosnisch-serbischen General Radislav Krstić (35 Jahre Haft)
als Genozid ein. Geboren 1948 in Vlasenica/Jugoslawien, übernimmt Krstić im Bosnienkrieg am 13. Juli 1995
das Kommando des Drina-Corps. Das Massaker von Srebrenica geschieht in dem Gebiet, das unter seiner Veranwtortung stand.
Nun sorgt eine Initiative serbischer Nationalisten in Bosnien und Herzegowina für Aufruhr. Sie möchte eine Büste des
Nobelpreisträgers Peter Handke in Srebrenica aufstellen, wofür Vojin Pavlović von der Bürgerinitiative „Istocna alternativa“
(Alternative für den Osten) den Anstoß gab.
Es solle ein Denkmal für den Mann errichtet werden, "der den Nobelpreis erhielt, und der die Serben repräsentiert, indem er die
Wahrheit über den Krieg in Bosnien und Herzegowina ebenso nachweist, wie dass es keinen Genozid in Srebrenica gab. Wir erklären uns
bereit, die für das Denkmal notwendigen Kosten zu tragen.“
Pavlović
Die Verleihung des Nobelpreises an Handke, sei Beleg dafür, dass sich freie, internationale Intellektuelle
entschlossen haben, „das Werk des Künstlers und dessen unermüdliches Bemühen um Wahrheit“ auszuzeichnen, „mit dem er den Den Haager Urteilen
entgegentrat und der Behauptung, in Srebrenica habe ein Genozid stattgefunden.“
Der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Potocari für die Toten von Srebrenica, Sadik Ahmetović, hält das für ein bedrohliches Signal an die
Opfer und Überlebenden der Massaker. Es sei dann nicht ausgeschlossen, „dass in Zukunft auch eine Büste des Kriegsverbrechers Radovan
Karadžic in Srebrenica errichtet wird.“
Ćamil Duraković, der ehemaliger Bürgermeister der Stadt, sieht die Opfer durch die Provokation,
wie eine Handke-Büste sie darstellen würde, zusätzlich geschmäht und den Genozid bagatellisiert.
Nach ungefähren Schätzungen leben auf den etwa 540 Quadratkilometern der Gemeinde Srebrenica heutzutage etwa 15.000 Menschen.
Vor dem Krieg waren es 37.000. Srebrenica erlebt einen demographischen Kollaps: Viele wandern ab - aus wirtschaftlichen Gründen,
denn es mangelt an Arbeitsplätzen. Die einstige Wirtschaftskraft der Stadt gründete auf Bergbau und Kur-Tourismus - durch Krieg
und gescheiterte Privatisierung ist vieles zerrüttet. Es herrscht Lethargie. Die Menschen sind schlecht informiert und nicht in der Lage
oder Willens, sich selbst dort eine Zukunft aufzubauen. Der Bürgermeister: "Gerade in Srebrenica ist es schwer zu leben. In Srebrenica leben
nur noch die, die hier einfach leben müssen und nirgendwo anders hingehen können."
Er selbst hält sich zwar die meiste Zeit in Srebrenica auf, lebt aber mit seiner Familie in Sarajevo. Und das ist keine Seltenheit:
Auch der Gemeinderatsvorsitzende wohnt nicht in Srebrenica, sondern im benachbarten Serbien. Von den 27 Gemeinderatsabgeordneten
leben 20 in anderen Städten.
"Romanska bågar" von Tomas Tranströmer
In der gewaltigen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel.
Gewölbe klaffend um Gewölbe und kein Überblick.
Kerzenflammen flackerten.
Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich
und flüsterte durch den ganzen Körper:
"Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz!
In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.
Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll."
Ich war blind vor Tränen
und wurde auf die sonnensiedende Piazza hinausgeschoben
zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini,
und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.
“Bodenlose Abscheu": Ana Grujić attackiert Peter Handke
Stille Wasser
Es war einmal eine multikulturelle Stadt: Višegrad an der Drina. Im Bosnienkrieg brach das Grauen über die Muslime dort herein.
Die Erinnerung daran erklärt den Zorn auf Peter Handke, der davon wenig hören wollte und ein Bad im Fluss nahm.
Man kann sich schwer einen Ort ausdenken, an dem so epische Grausamkeiten begangen wurden und der zugleich so schön ist. Auf elf steinernen Bögen
schwebt die Brücke über der Drina, seit mehr als vier Jahrhunderten, und verbindet die beiden Ufer dieses Flusses, der über die Epochen
eine tosende Grenze zwischen Orient und Okzident formte.
Heute gibt es in Bosnien viele Brücken, und die Drina ist kein alles mitreißender Strom mehr,
sondern zwischen Staumauern verstummt. Schweigend steht das Wasser an diesem Herbstnachmittag unter den sanft ergrauten Steinbögen,
und auch auf der Kapija, der balkonhaften, mit Bänken zum Verweilen einladenden Verbreiterung in der Mitte der Brücke, ist es
ruhig, bis auf die rasselnden und knatternden Plastikspielzeuge der Kinder. Ein Junge schwingt ein orangefarbenes Mini-Maschinengewehr,
sein Kumpel kommt mit einem lärmenden gelben Auto in der Hand den Spaziergängern entgegengelaufen.
"Soll ich euch die Tafel vorlesen?"
Dann beginnt der Junge, elf Jahre ist er und heißt Vehbija, ein muslimischer Name, zu rezitieren, was da in arabischer Schrift in Stein gemeißelt steht.
Siehe, Mehmedpaša, der Größte unter den Weisen
Und Großen seiner Zeit
Erfüllte das Gelöbnis seines Herzens
Und mit seiner Fürsorge und seinem Eifer
Erbaute er eine Brücke über den Drinafluss."
Eine umfassende Huldigung des Großwesirs, der im 16. Jahrhundert dieses Wunderwerk errichten ließ. Nein, nein, er könne kein Arabisch lesen,
schiebt der Junge bescheiden hinterher, er habe die Übersetzung auswendig gelernt, aus dem Buch von Ivo Andrić.
Im heutigen Spa-Hotel folterten und vergewaltigten serbische Milizen bosnische Frauen
Natürlich, das Jahrhundertwerk des nobelpreis-gekrönten jugoslawischen Schriftstellers, der seine Kindheit hier
in Višegrad verbrachte und die Brücke zur Hauptfigur seiner Erzählung machte. Die ersten hundert Seiten genießt man besser auf nüchternen Magen;
man erlebt etwa die Pfählung eines serbischen Bauern, die der osmanische Befehlshaber angeordnet hat, weil der Mann sich der Zwangsarbeit
widersetzt und den Brückenbau sabotiert hatte.
Das "Knarren und Knirschen" seines Körpers hallt durch die Buchseiten, während der Pfahl durch ihn getrieben wird, Hammerschlag
für Hammerschlag, sorgsam an den lebenswichtigen Organen vorbei, damit der Tod ihn ja nicht zu früh erlöst. Dem Sterbenden entweicht
noch der Fluch: "Türken auf der Brücke ... wie Hunde sollt ihr verrecken." Damit ist der Ton erst einmal gesetzt in diesem Geschichtsgemälde
einer komplexen Weltregion. Mit fortschreitender Lektüre wird es etwas leichtfüßiger; die über die Jahrhunderte abgetrennten und
aufgespießten Köpfe werden eher beiläufig auf der Brücke aufgereiht, es flanieren Spieler, Beamte und Liebeskranke darüber, und dann
kommen die Österreicher und stülpen der bosnischen Stadt ihren effizienten Verwaltungsapparat über, bis sie im Ersten Weltkrieg
Teile der Brücke sprengen.
Aber war da nicht noch was? Dinge, über die Andrić nicht schreiben konnte, weil sie erst nach seinem Tod im Jahr 1975 passiert sind?
Die alle Grausamkeiten der vorigen Jahrhunderte überschatten?
Višegrad, so hat es das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien formuliert, war "einer der umfassendsten und skrupellosesten Kampagnen
ethnischer Säuberung im bosnischen Konflikt ausgesetzt." Serbische Milizen vertrieben und massakrierten muslimische Einwohner. Will man
genauer wissen, was 1992 hier passierte, muss man lange suchen. Die "kleine Stadt für einen großen Urlaub", wie sie sich in den Tourismus-Prospekten
nennt, setzt sehr viel daran, Reisenden den Blick auf ihr jüngstes und hässlichstes Kapitel zu verstellen. In der Broschüre für Besucher
erfährt man allerlei über das Leben von Ivo Andrić und dessen Schule, die man besuchen kann, über das "Beer Bike", auf dem man jetzt
biertrinkend als Gruppe über die osmanische Brücke radeln kann, und über die heißen Quellen im Wald, mit ihrer segensreichen Wirkung
bei Gelenk- und Atemwegsleiden. Dass das dortige Spa-Hotel seinerzeit den serbischen Milizen als Vergewaltigungs- und Folterzentrum
für muslimische Frauen diente, bleibt unerwähnt. Ebenso Zahlen wie diese: 1991 waren 63 Prozent der Bewohner von Višegrad Muslime.
Sechs Jahre später nur noch weniger als ein Prozent.
Der Träger des Deutschen Buchpreises 2019,
Saša Stanišić
stammt aus Višegrad. In seinem Buch "Herkunft" erzählt er, wie er vor dem Krieg
mit seinen Cousinen dort auf einer Treppe saß, Kaufladen spielte und Puppen verhaute. Die Cousinen leben heute in Frankreich, er in Hamburg.
"Über Višegrad sprechen wir seit Višegrad nicht mehr", schreibt er.
Die Republika Srpska, die 1995 per Dayton-Vertrag beschlossene serbische Teilrepublik Bosniens, sei "in einem Gebiet erschaffen worden,
in dem nie zuvor ein serbischer Staat existiert hatte", jubelte damals Serbiens Präsident Slobodan Milošević, der den Konflikt geschürt hatte:
"Das ist eine historische Leistung." So leben Serben und Muslime heute in zwei Ländern, aber unter dem Dach eines Staates vereint;
Višegrad liegt im serbischen Teil.
Hat man Glück, trifft man in der Stadt auf Menschen wie Edin Karaman. Er ist bosnischer Muslim und arbeitet als Beauftragter der Regierung
für die Unterstützung von Rückkehrern. Von Menschen also, die damals rechtzeitig vor den Massakern der serbischen Milizen geflohen sind - und beschlossen
haben, die "ethnische Säuberung" ihrer Heimat nicht als Dauerzustand zu akzeptieren. Karaman, ein groß gewachsener Mann mit blauen Augen und
aufrechter Körperhaltung, schreitet einen Hügel hinauf. Vorbei am muslimischen Friedhof, auf dem die Gräber mit dem Todesjahr 1992 ein eigenes,
großes Feld bilden. An einem Grabstein lehnen zwei Plüschbären, der Junge, der darunter begraben liegt, wurde gerade sieben Jahre alt.
"Sein Vater war ein Freund von mir", sagt Karaman.
Das Wort "Genozid" haben die Behörden aus der weißen Stele am Eingang herausmeißeln lassen,
Hinterbliebene haben es in schwarzen Lettern neu draufgepinselt. Die wiederum sind jetzt mit weißer Farbe überstrichen. "Es ist ein ständiges
Ringen um die Wahrheit", sagt Edin Karaman.
Er biegt auf einen Trampelpfad ein, der auf ein Haus mit frisch getünchter weißer Fassade zuläuft. Nur wer nah herangeht, sieht die
Schmauchspuren an der unrenovierten Außenwand des Untergeschosses. Mindestens 59 Menschen sind hier am 14. Juni 1992 lebendig verbrannt,
sie wurden von serbischen Milizen hineingetrieben und dann mit Sprengsätzen beworfen. Unter den Toten war laut Zeugenaussagen ein zwei Tage altes Baby.
Ähnliches passierte in einem Dorf nahe Višegrad, eine Frau entkam dem Massaker lebend, Edin Karaman trug sie durch den Wald an einen sicheren Ort,
"sie hat bei jeder Berührung geschrien", erzählt er, "ihre Haut unter den Verbänden war total verbrannt."
Auf dem Nachbargrundstück klaubt eine alte Frau ein paar Scheite Brennholz zusammen. Auf die Frage über den Zaun hinweg, was hier 1992
passiert sei, erstarrt sie. "Ich war während des Krieges nicht hier", sagt sie und schaut durch ihre dicken Brillengläser.
"Aber ich kann Ihnen sagen: Ich wohne hier seit vierzig Jahren, ich habe nie mit irgendjemandem Probleme gehabt." Dann verschwindet sie nach drinnen.
Die Seite der serbischen Mörder verklärt Peter Handke - er sei "ein Apostel der Wahrheit"
Muslimische Bosnier haben das Haus mit eigenem Geld herrichten lassen, um es zu schützen; die Stadtverwaltung hatte schon Pläne,
die Ruine abzureißen und eine Straße darüber hinweg zu bauen. Von der Fassade allerdings laufen Spuren von Eiweiß und Dotter herab;
jemand muss die Eier erst vor ein paar Tagen gegen die Wände geworfen haben. "Da sieht man's", sagt Edin Karaman. "Es schwelt alles weiter."
Just an diesem Tag im Herbst 2019 hat ein Gericht in der Hauptstadt Sarajevo, drei Autostunden westlich, einen Mittäter dieses Brandmassakers
zu 20 Jahren Haft verurteilt. "So ein Urteil beruhigt uns natürlich", sagt Karaman. "Aber wirklichen Frieden werden wir erst finden,
wenn alle Mittäter verurteilt sind. Und wenn die Knochen von allen Vermissten gefunden sind." Seit dem Bürgerkrieg gelten in Bosnien noch mehr als
6000 Menschen als vermisst. Die Überreste von mehr als 300 Toten wurden 2010 im Drina-Stausee unterhalb von Višegrad gefunden,
als der Wasserspiegel für Wartungsarbeiten gesenkt wurde. Auch die Gebeine von Edin Karamans Cousin, er war Imam in der Hauptmoschee von Višegrad,
lagen auf dem Seegrund. "Einzelheiten wissen wir nicht", sagt Karaman, "ob er auf der Brücke erschossen wurde oder irgendwo am Ufer."
Was hält er davon, dass all diese Geschichten in der offiziellen Selbstdarstellung in Višegrad keine Rolle spielen? Dass die Stadt heute voller
Symbole des serbischen Nationalismus ist? "Was soll ich dazu sagen? Ich habe allmählich keine Kraft mehr." Dann erzählt er vom 10. März dieses Jahres;
an dem Tag sind Hunderte serbische Nationalisten in Uniformen durch die Stadt marschiert, unter seinem Bürofenster entlang, haben einen
Tschetnik-Führer des Zweiten Weltkriegs hochleben lassen, der Tausende Menschen im Drinatal ermorden ließ; sie sangen Liedzeilen wie
"Die Hölle wird wiederkommen" und "Die Drina wird wieder blutig sein".
Will man Karamans Vorgesetzten sprechen, den Bürgermeister von Višegrad, muss man zwischen allerlei Kulissen hindurch. Die Stadtverwaltung hat
sich in einem Neubau mitten in "Andrićgrad" niedergelassen, einer künstlichen Geschichtslandschaft, die der serbische
Regisseur Emir Kusturica
mit Geldern der bosnisch-serbischen Regierung auf einer Landzunge bauen ließ, wo der Nebenfluss Rzav in die Drina mündet. Kusturica wolle
hier Ivo Andrićs Werk verfilmen, heißt es. Wobei es so aussieht, als würde die Geschichte hier sehr einseitig geschildert. Auf einem riesigen
Wandmosaik ziehen der Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, und Kusturica gemeinsam an einem Seil; wer am anderen Ende zieht,
sieht man nicht. Ein anderes Mosaik zeigt Gavrilo Princip, den serbischen Nationalisten, der 1914 in Sarajevo den österreichischen Thronfolger
Franz Ferdinand erschoss und so den Ersten Weltkrieg auslöste.
Darunter hängt ein Plakat, das eine Veranstaltung von Kusturica ankündigt: "Peter Handke - Apostel der Wahrheit". Handke, der 1996 in Višegrad
war und in seinem "Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise" davon erzählt. Der darin Berichte der New York Times über Massaker
an Muslimen vier Jahre zuvor anzweifelt; etwa die Zeugenaussage einer Frau, die berichtet, wie serbische Milizen ihre Mutter und
Schwester erschossen und von der Brücke in die Drina warfen. Der außerdem von seinem eigenen kühlenden Bad in der Drina erzählt,
in jenem Sommer 1996, wobei die Erfrischung so ganz unbeschwert dann doch nicht war: "Kein Wasser, siehe die Wasserleichengeschichten,
in den Mund kommen lassen!", notierte Handke.
Mladen Ðjurević, der Bürger-meister, ein kantiger Mann mit sorgfältig konturiertem Drei-tagebart, nimmt am Ende eines Besprechungstisches Platz,
auf dem vier Fähnchen aufgereiht sind: Das Stadtwappen von Višegrad. Die Flagge der Republika Srpska, der ser-bischen Teilrepublik im heutigen Bosnien.
Die der benachbarten Republik Serbien. Und die rus-sische Staatsflagge. Er habe schlechte Erfahrungen mit der ausländischen Presse, sagt er als
Erstes: Es sei mal eine britische Reporterin dagewe-sen, die ihn alles Mögliche zu Ivo Andrić und der Brücke gefragt habe, und am Ende habe
sie vor allem über den Bosnienkrieg geschrieben. "Das ist nicht fair", sagt Ðjurević mit festem Blick auf den Besucher. Ein paar kritische
Fragen werden aber doch erlaubt sein. Wenn man schon so einen Kulissenpark aufbaut wie dieses Andrićgrad hier - würde dann, der historischen
Korrektheit halber, neben die sehr imposante serbisch-orthodoxe Kirche nicht auch eine Moschee gehören?
Ðjurević schaut zu seiner Assistentin, dann sagt er: In der Stadt seien doch durchaus zwei Moscheen wieder aufgebaut werden. Und schließlich
gebe es ja auch das Denkmal für Mehmedpaša Sokolović, den von hier stammenden Großwesir, der damals die berühmte Brücke bauen ließ.
Gedenkstätten mag man nicht so sehr in Višegrad. Lieber spricht man vom Craft-Beer-Festival.
Und was ist mit dem Haus in der Pionierstraße, wo Dutzende Menschen lebendig verbrannt wurden? Dessen Fassade heute mit Eiern besudelt ist?
Wäre es nicht eine Idee, das Haus vor Übergriffen zu schützen und als Gedenkstätte in den Prospekten und Karten für Touristen zu verzeichnen?
"Das hat mit Tourismus nichts zu tun", sagt der Bürgermeister, seine Miene verschattet sich. Nach ein paar Sekunden Stille hellt sie sich wieder auf:
"Wussten Sie, dass wir kürzlich unser erstes Craft-Beer-Festival veranstaltet haben? Es waren auch vier Jurymitglieder aus München da."
Ein paar Hundert Meter weiter steht Edin Karaman am Ufer der Drina und schaut auf das gestaute Wasser. "Was sollen wir machen", sagt er:
"Das Leben muss weitergehen. Entweder wir entscheiden uns dafür zusammenzuleben oder wir gehen für immer." Wobei Letzteres für ihn keinesfalls
infrage kommt: "Wir sind doch seit Jahrhunderten hier."
Ivo Andrić hat einen Satz in seine Brücken-Chronik geschrieben, der wohl bis heute gilt: "Die Brücke änderte sich weder mit den Jahren
noch mit den Jahrhunderten, noch mit den schmerzlichsten Wendungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. All das ging über sie hinweg,
wie das unruhige Wasser unter ihren glatten und vollkommenen Bögen dahinfloss."
Quelle: Tobias Zick
Terror
Als Damira Kečanović 15 Jahre alt ist, beginnt die Jugoslawische Volksarmee ihre Stadt zu bombardieren. Die Städte an der Drina,
Bijeljina, Bratunac, Srebrenica, Foca und Višegrad werden im April überrannt. Paramilitärische Einheiten verbreiten Terror.
Das Drina-Tal liegt an der Grenze zu Serbien. Ziel ist, die Nicht-Serben zu vertreiben und zu ermorden, die Region an Serbien
anzuschließen. Man wollte die Grenze quasi "verschieben". Im Drina-Tal werden im Krieg insgesamt 28.135 Menschen
getötet, über 16.000 Zivilisten, die meisten mit muslimischen Namen – nämlich 15.400, davon 2.672 Frauen. Die grausamsten ethnischen
Säuberungen finden von April bis August 1992 statt.
Damira und ihre Familie werden ins Fussballstadion mitten in der Stadt gebracht. "Die Tschetniks haben die Männer weggebracht.
Später ist mein Vater in einem Massengrab gefunden worden" erzählt sie. In der Nacht habe sie die Hilferufe der Männer gehört – viele von
ihnen werden auf der Brücke über der Drina ermordet und hinunter gestürzt.
Sie plündern die Häuser der Muslime, stehlen Schmuck und Geld. Damira hört die Schreie der vergewaltigten Frauen.
Ihre Mutter unterschreibt schließlich, die Stadt zu verlassen.
Am 14. Juni 1992 schließen sie in der Pionirska Straße im Haus von Adem Omeragić 59 Leute, vor allem Frauen und Kinder ein.
2009 verurteilt das Haager Tribunal Milan Lukić 2009. Er warf den Sprengstoff in das Haus, der dieses in Flammen setzt.
Er schoss auf die Menschen, die versuchten aus dem Haus zu fliehen. Am 27. Juni wiederholt er die Tat – diesmal setzt er ein Gebäude
in der Siedlung Bikavac in Brand – 60 Menschen sterben in dem Inferno.
Die damalige Vizepräsidentin der Republika Srpska, Biljana Plavšić meint: "Muslime sind entartete Slawen. Als Biologin weiß ich das."
Frau Kecanović ist auch heuer (2017) wieder mit Hunderten anderen zum Gedenken an die Toten nach Višegrad gekommen.
Doch die Busse mit den Angehörigen der Opfer müssen zehn Kilometer vor der Stadt warten, weil dort gerade der 25. Jahrestag der Gründung
der Višegrader Brigade der Armee der Republika Srpska gefeiert wird. Vor dem Denkmal für die "Verteidiger der Republika Srpska"
legen Kinder in Folklorekostümen Kränze nieder. Zwei Priester schwenken Weihrauchkesseln und besingen die Višegrader Brigade.
Dann tritt der ehemalige Kommandant Luka Dragićević ans Mikrofon. Seine Hände zittern. Er schiebt die Schuld am Krieg den Muslimen
in die Schuhe.
Auch der Bürgermeister würdigt die Višegrader Brigade. Als eine halbe Stunde später die Opferverbände der Muslime auf der Osmanischen Brücke
Rosen für ihre ermordeten Angehörigen ins Wasser fallen lassen, ist kein Vertreter der Stadt anwesend. Auf dem muslimischen Friedhof oberhalb
der Stadt, wo an diesem Samstag Überreste eines Opfers der ethnischen Säuberungen aus dem Jahr 1992 begraben werden, steht ein Denkmal.
Das Gedenken wird durch lautes Hupen gestört. Hochzeitsgesellschaften fahren durch die Stadt und halten Fahnen der Republik Serbien aus den Autos.
"Sie provozieren jedes Jahr, wenn wir hierher kommen. Wieso müssen sie gerade an diesem Tag laute Musik spielen und ihre Hochzeiten feiern?"
In den Städten an der Drina wurden auch die Moscheen zerstört. Den Bewohnern von Dörfern, die gesäubert werden sollten, gewährt man 20 Minuten,
um den Ort zu verlassen, sonst würden sie getötet. Das Hotel Vilina Vlas oberhalb von Višegrad, wo LukiDragić sein Quartier bezogen hat,
wird zum Ort der Folter für Frauen.
Die wenigsten der Überlebenden sind an die Drina zurückgekehrt.
Unwürdig
Am Freitag in der Pressekonferenz hatte Peter Handke noch konsequent Englisch gesprochen. Ein schreckliches Englisch, bei dem manche
sich gefragt haben mochten, warum er nicht, wie angekündigt, Deutsch sprach. Eine Übersetzerin saß neben ihm, die für die internationale
Presse gedolmetscht hätte, aber Handke blieb von der ersten Frage an beim Englischen – ein grandioser Trick natürlich, denn so würde er
später etwaige Ärgernisse mit mangelnder Sprachbeherrschung erklären können, wie er es früher schon getan hatte, wenn er
Aussagen aus Interviews, die mit ihm etwa auf Spanisch oder Serbisch geführt worden waren, nachträglich beschönigen wollte.
Und so wird es Handke denn wohl auch mit seinem unappetitlichen gestrigen Fäkalvergleich halten, bei dem er unliebsame
Fragesteller mit benutztem Toilettenpapier verglich (zu deren Nachteil). Eines Literaturnobelpreisträgers war
das trotzdem unwürdig.
Heute war also etwas gutzumachen, denn im durchgetakteten Programm der Nobelpreiswoche in Stockholm standen die „Nobel Lectures“ der beiden
Literaturpreisträger an, wieder im großen Saal der Schwedischen Akademie. Und Handke sprach Deutsch, aber auch Slowenisch und Schwedisch.
Ein schreckliches Schwedisch und das bei einem Gedicht von Tomas Tranströmer, dem Nobelpreisträger von 2011, aber der österreichische Nachfolger
hatte das Stockholmer Publikum gewarnt. Es belohnte ihn mit Applaus, aber die Gedichtrezitation von „Romanska bagar“ (Romanische Bögen)
stand ja auch am Ende der Nobelpreisrede, und die Ratlosigkeit der Zuhörer war auch daran zu merken, dass der Schlussbeifall
schwächer ausfiel als der Begrüßungsapplaus. Bei Olga Tokarczuk war das zuvor anders herum.