Ende der SPD als Volkspartei?

Bundestagswahl 2017

Sie hat alles geändert:
Die SPD steckt in der Dauerkrise, Umfragen Januar 2018: erstmals unter 20%.
Ihre Inhalte nimmt man kaum wahr,

Martin Schulz, der Vorsitzende, ist umstritten. Für den Niedergang gibt es viele Ursachen.

Spricht man von der SPD, ist oft von der "alten Dame" die Rede. Die 1875 im thüringischen Gotha gegründete Partei kämpft schon im Kaiserreich für soziale Gerechtigkeit, bietet Hitler die Stirn und hebt die Bundesrepublik mit aus der Taufe. Unter Willy Brandt holt sie bei der Bundestagswahl 1972 mit 45,8% ihr Rekordergebnis. Mehr als eine Million Mitglieder haben die Sozialdemokraten damals.
2016 sind es nur noch 432.000. Bei den Bundestagswahlen 2017 (20,5%), 2013 (25,7%) und 2009 (23%) holt die SPD die drei schlechtesten Ergebnisse der Nachkriegsgeschichte. Die Summe der Mandate auf Bundes- und Länderebene nimmt kontinuierlich ab. Keiner ihrer drei Kanzlerkandidaten hatte gegen

Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) eine Chance.
In einigen ostdeutschen Bundesländern droht sie mit Wahlergebnissen um die 10%-Marke gar den Anspruch einer Volkspartei zu verlieren.
Wie ist dieser Niedergang zu erklären? Welche inneren und äußeren Faktoren haben dazu beigetragen?
Für den Abstieg gibt es innere Faktoren wie Personal oder Programmatik. Und es gibt äußere Faktoren. Also solche, auf die die Partei-Oberen keinen oder wenig Einfluss haben. Dazu gehört die Veränderung der Wählermilieus. Noch 1972 machen zwei Drittel der Arbeiter ihr Kreuzchen bei der SPD. 2017 sind es nur noch 23%. Etwas weniger als bei der Union und kaum mehr als bei der AfD.
Eine straff, oft gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft ist in dieser Form nicht mehr vorhanden: Die Gesellschaft hat sich individualisiert. Michael Donnermeyer, früherer Wahlkampfberater von

Gerhard Schröder und

Peer Steinbrück:
"Eine Volkspartei lässt sich heute nicht mehr so leicht organisieren wie vor 50 oder 100 Jahren". Weil die SPD besonders von ihrer Organisationskraft gelebt hat, bereitet ihr das Aufbrechen der Milieus größere Schwierigkeiten als der Union.
Unter Gerhard Schröder holt die SPD 1998 mit 40,9% ihr letztes Ergebnis jenseits der 40%-Grenze geholt.

Auch bei der CDU/CSU sind im Bund Wahlergebnisse um die 50% wie zwischen den 50er bis 80er Jahren mittlerweile undenkbar. Auch die CDU hat ihre Mitgliederzahl in den vergangenen Jahrzehnten praktisch halbiert. Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel spricht von den Volksparteien als "Dinosaurier der Nachkriegsdemokratien".
Die SPD muss sich mit den Grünen und der Linkspartei, ein Zusammenschluss von SPD-Abweichlern und der SED-Nachfolgepartei PDS, im linken Parteienspektrum an zwei starken Konkurrenten abarbeiten.
Politstratege Donnermeyer: "Die Entstehung der Linkspartei ist schon ein schmerzender Punkt für die SPD. Die haben 10%, die auf Bundesebene praktisch für eine Mehrheitsbildung nicht zur Verfügung stehen." Schaut man nach Europa, geht es den deutschen "Sozis" aber noch vergleichsweise gut: Die Parti Socialiste in Frankreich und die Partij van de Arbeid in den Niederlanden holen bei den letzten Parlamentswahlen 7,4 bzw. 5,7%.
Schröders Agenda 2010 soll wichtigster Faktor für den Niedergang der SPD sein. Obwohl Deutschland dank der seit 2003 schrittweise eingeführten Reformen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, beinhaltet die Agenda Zumutungen für sozial Schwache wie das Hartz-4-System.
Die traditionellen Bande zu den Gewerkschaften, die die Reformen als Verrat an der Arbeiterschaft betrachten, werden schwächer. Michael Donnermeyer: "Nur mit dem Erstarken der Linkspartei lässt sich die Schwäche der SPD nicht erklären. Die Agenda 2010 ist für einige, die immer dagegen waren, ein innerparteiliches Trauma, aber nicht für alle SPD-Mitglieder und ich glaube auch nicht für die Wähler." Jedoch debattiert die SPD seitdem darüber, was für eine sozialdemokratische Partei sie eigentlich sein will. Und das Glaubwürdigkeitsproblem bleibt: Obwohl die SPD in der vergangenen Großen Koalition mit Mindestlohn oder Frauenquote einige Forderungen durchsetzen konnte, bleibt die Skepsis bei den Gewerkschaften und dem Rest der Arbeiterschaft groß.
Personalschwächen sind eine wichtige Ursache:

Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz, die letzten drei Kanzlerkandidaten der SPD, haben gegen Angela Merkel keine Chance. Auch aktuell gibt es niemanden, dem man in den kommenden Jahren zutraut, die Begeisterung der Wähler für die SPD zu entfachen. Der anfänglich Hype um Martin Schulz zu Beginn des Wahlkampfes erweist sich letztlich als Strohfeuer. Selbst

Hamburgs populärer Regierender Bürgermeister Olaf Scholz, als kommender Parteichef gehandelt, ist kein Charismatiker, der Menschen mitreißen kann.

Andrea Nahles,

Heiko Maas,

Manuela Schwesig,

Malu Dreyer – traut man ihnen zu, das Ruder herumzureißen? Ist das Personalangebot der SPD alternativlos?

Michael Donnermeyer: "Charisma kann natürlich auch an der Spitze nicht schaden". Genauso würden jedoch glaubhafte Inhalte und harte Arbeit zählen. Die Inhalte dürften ein Grund für die Schlappe bei der Wahl im Herbst 2017 sein. "Das Fehlen eines geschlossenen inhaltlichen Angebots, das mit einer ausreichenden Geduld vermittelt wird und zum Kandidaten gepasst hat ist Ursache der Niederlage." Zudem hätte die Partei ihre Erfolge in der GroKo "selbstbewusster loben – und für mehr SPD um größere Unterstützung werben müssen". Die Partei habe sich während der vierjährigen Regierungszeit jedoch mehr auf die Sacharbeit konzentriert, die CDU-Kanzlerin konnte viele Meriten einfahren.
Donnermeyer wünscht sich eine selbstbewusste SPD, die "zeitgemäße Antworten findet für ihre nach wie vor berechtigten Kernanliegen Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit."
Aus beiden letzten beiden Großen Koalitionen (2005-2009, 2013-2017) ging die SPD deutlich geschwächt heraus. Viele SPD-Granden machen dafür direkt die Kanzlerin verantwortlich. Martin Schulz wirft der CDU-Vorsitzenden im Wahlkampf "Politikverweigerung" vor, sie würde "inhaltsleere Politik" betreiben und die Wähler "einlullen". Vorwürfe, die Merkel wie gewohnt an sich abprallen lässt.
Noch problematischer ist für die SPD ohnehin, dass Merkel die CDU mit der Übernahme sozialdemokratischer Forderungen weiter in die Mitte geführt hat – und den Sozialdemokraten damit Raum genommen hat.
Wie geht es der SPD im Jahr 2018? Wo steht sie? Kann sie jüngere Wahlerfolge wie in Niedersachsen, insgesamt sieben Regierungschefs auf Länderebene und Erfolge in den Kommunen auch küftig in der Bundespolitik nutzen? Die meisten Demoskopen meinen, dass die SPD nicht abgestürzt ist – sondern sich einfach nur auf einem realistischen Niveau eingependelt hat. Die alte Dame SPD dürfte auf absehbare Zeit ein Sorgenkind bleiben.



Hoffnung?

Sarah Wagenknecht will unzufriedene Sozialdemokraten für eine neue Sammlungsbewegung gewinnen. "Es gibt heute im Bundestag keine Mehrheit für einen höheren Mindestlohn oder eine Vermögensteuer für Superreiche, es gibt diese Mehrheiten aber in der Bevölkerung." Solange dies alleine die Linke vertrete, könne daraus keine Regierungspolitik werden. "Deshalb wäre es gut, wenn Politiker unterschiedlicher Parteien, die für ein solches Programm zusammenstehen, sich zusammenschließen". Werde gemeinsam etwas Neues aufgebaut, sei die Hürde für unzufriedene Sozialdemokraten vielleicht geringer als ein Übertritt in die Linkspartei. Wenn Neues entstehe, würden die Chancen auf andere Mehrheiten wachsen, wie das Beispiel von Emmanuel Macron zeige, der in Frankreich mit einer neuen Bewegung zum Präsidenten gewählt wurde.

Ihr Mann Lafontaine hatte bereits zuvor gesagt: "Wir brauchen eine linke Sammlungsbewegung, eine Art linke Volkspartei, in der sich Linke, Teile der Grünen und der SPD zusammentun." Die fundamentale Frage nach dem Weg der Partei in die Zukunft zerrt an den Sozialdemokraten. Sie spaltet die SPD und rückt eine andere Frage in den Fokus, die seit einigen Wochen durch die politische Landschaft geistert: Braucht es eine neue linke Sammlungsbewegung?
Fast jeder relevante Politiker hat dem Vorschlag der beiden bereits eine Absage erteilt, selbst die Kommunistische Plattform – eigentlich Wagenknechts Machtbasis – hat sich von dem Vorschlag distanziert. Die beiden haben also keinen einzigen wichtigen Unterstützer. Hinzu kommt, dass man bisher überhaupt nicht weiß, was genau die beiden planen. Es gibt bloß ein paar dürre Worte aus dem Spiegel, die Verlautbarung, dass man einmal darüber nachdenken solle. Und trotzdem erhitzt der Vorschlag die Gemüter.
Der Vorschlag zielt auf den tiefgreifenden strukturellen Machtverlust der politischen Linken in Deutschland, den nicht einmal Wagenknechts Gegner leugnen können. Und mit einer AfD, die sich im Parlament etabliert und die Mehrheiten verschiebt, sind rot-rot-grüne Gesprächsrunden auf absehbare Zeit bloß noch theoretische Debatten. Zumal die Grünen – geführt von einer Realo-Doppelspitze – keinesfalls mehr eindeutig zu einem sich irgendwie als links verstehenden Lager zu zählen sind, sondern als neue Funktionspartei.
Über neue Formen der Mobilisierung nachzudenken, ist ein Gebot der politischen Vernunft. Dass Wagenknecht von Sammlung spricht und ihr aus der Partei Spaltung entgegenschallt, weist indes auf tief sitzende Neurosen.
Was soll das Linke an dieser linken Volkspartei sein? Der soziale Konflikt wird heute von der Kultur überlagert, dem Kampf zwischen gesellschaftlichem Liberalismus und Autoritarismus. Für einen weiten Teil der alten linken Kernklientel wird soziale Sicherheit im Nationalstaat verteidigt, Zuwanderung gilt als Bedrohung. Nun ist es die AfD, die diesen Protest mobilisiert. Viele von diesen Wählern wanderten bei dieser Wahl von links nach rechts.
Bei der Bundestagswahl erzielt die Linkspartei ihr bestes Ergebnis unter den Wählern mit Hochschulreife, bei jenen, die nur die Hauptschule besuchten, kommt sie kaum mehr auf fünf Prozent. Im Osten, insbesondere in den ländlichen Regionen, bricht sie ein. In der Debatte um eine neue linke Volkspartei bleibt dies die zentrale, unausgesprochene Frage:
Wie soll eine linke Sammlung tatsächlich sammeln? Wie zusammenführen, was gegeneinander strebt? Antworten auf diese Frage sucht die Linke – nicht nur in Deutschland – bislang vergeblich.
Warum sollte also in einer neuen Volkspartei gelingen, was den Linken nicht einmal in ihrer eigenen Partei gelingt?
Oder ist das Ganze nur ein lauter Befreiungsschlag Wagenknechts und Lafontaines, die in ihrer Partei isoliert sind. Die Mehrheiten sind strukturell gegen sie, sie haben sich in eine strategische Sackgasse manövriert. Wie herauskommen?
Nirgends ein Hoffnungsschimmer ...

RRG: 20,5 + 9,2 + 8,9 = 38,6 gegen SG: 32,9 + 10,7= 43,6