IKARIA

Wer aus den Kykladen kommend nach Samos segelt, passiert 10 sm vor dem Ziel eine langgestreckte, hohe, weithin kahle Insel. Segler bevorzugen meist den Phournoi-Archipel mit seinen schönen Buchten, ideale Ankerplätze für diejenigen, die völlige Einsamkeit suchen.
Das war nicht immer so, denn vor ein paar hundert Jahren war Ikaria, die in Griechenland scherzhaft "Rote Insel" heißt (siehe weiter unten), Schlupfwinkel der Piraten, die von und nach Samos gehende Schiffe kapern.

Im April 1997 ließ sich ein erschöpfter winziger Vogel ohne Scheu im Cockpit unserer Yacht nieder. Gut eine halbe Stunde sitzt er auf dem Schuh eines Segelfreundes, wärmt und erholt sich an der windgeschützten Stelle, mit Wohlwollen von der gesamten Crew bedacht. Nach weiteren wechselnden Stellen an Bord startet er schließlich achteraus, um das gut sichtbare Eiland backbord voraus zu erreichen. Als wir schon die große blaue Kuppel mitten im Ort und den langgestreckten Wellenbrecher von Ormos Agiou Kirykou ausgemacht haben, zieht auf der glatten See treibend ein Häuflein kleiner brauner Federn vorbei ...

Ikaros aber lief, um die Federn zu sammeln, rührte verspielt mit seinen Fingern im Wachs, sein Vater, gefangen von Minos, brachte dem Sohn das Fliegen bei, wie ein Vogel, der seine Jungen vom hoch gelegenen Nest in die Lüfte lockt. Während er ihm die Flügel auf die Schultern anpasst, war das Gesicht des Vaters tränenfeucht, und seine Hände zitterten, er küsste den Knaben, reckte seine Flügel, um abzufliegen, seinen Sohn ermunternd es dem Vater gleichzutun. Anhielt der Ackermann seinen Pflug, hinauf zu schauen, und der Hirte erstaunte bei ihrem Anblick, sie meinten, es wären Götter, als der Knabe seinen Weg nach oben lenkte und aufstieg gen Himmel.


siehe

Et Paros et Clario Delos amata deo.
Dextra Lebynthos erat silvisque umbrosa Calymne,
Cinctaque piscosis Astypalaea vadis

Die Nähe der flammenden Sonne erweichte das Wachs, das die Federn zusammenhielt, Ikaros flatterte mit den Armen, aber keine Flügel waren da, um ihn zu halten in den Lüften hoch über dem Meer, das später Icarisches hieß. Während er gellende Schreie ausstieß nach dem Vater, versank er schon in den blauen Wellen des Meeres. Als der Vater die Federn schwimmen sah auf dem Wasser, tauchte der Leichnam auf, der Vater begrub ihn und benannte das Land Ikaria.

Dädalus und Ikarus hatten ihr Gefängnis, das Labyrinth des Minotauros, mit selbstgefertigten Flügeln verlassen. Uns erinnert die Bronzeplastik im Hafen an Ikaros' Flug ...

Ikaria gehört 1523 bis 1912 zum Osmanischen Reich. Während des Italienisch-Türkischen Krieges 1912 erkämpfen die griechischen Einwohner ihre Unabhängigkeit und bilden den Freistaat Ikaria. Im Zweiten Weltkrieg steht Ikaria erst unter italienischer, später deutscher Besatzung.
Durch Kampfhandlungen und Repressionen erleidet die Inselbevölkerung hohe Verluste, allein im Dorf Karavostomos verhungern über 100 Menschen. Den Entbehrungen des Weltkriegs folgen 1946 bis 1948 die des griechischen Bürgerkrieges zwischen Nationalisten und Kommunisten.
Die neue griechische Regierung der siegreichen Nationalisten benutzt die ausgezehrte Insel als Exil-Ort zur Unterbringung von bis zu 13.000 Kommunisten in Verbannungslagern. Die Bewohner Ikarias nehmen die Exilanten freundlich auf - und diese üben beachtlichen ideologischen Einfluss aus. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), die gegen Ende des 20. Jahrhunderts im restlichen Land ihre dominante Stellung verlor, stellt 2010 alle drei Bürgermeister .

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