Ein Sternreporter macht sich 1980 auf nach Israel und schreibt dann "Die Geschichte einer Entdeckung".
Er hat Selma Meerbaum-Eisinger entdeckt.
Heute gehört sie zum literarischen Dreigestirn der Stadt Czernowitz
Seine Namen: Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger.
Czernowitz ist jene deutschsprachige Insel aus den Zeiten der Habsburgermonarchie, die im Vernichtungsfuror
Hitler-Deutschlands untergeht. Zu den Opfern des Holocaust gehört auch die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger.
Zwei Freundinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel gelangen, bewahrten ihre Gedichte,
die sie gerettet hatten. Deutsch, die Sprache der Mörder, war lange Zeit in Israel eine tabuisierte Sprache. An eine
Veröffentlichung der deutschen Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger war vorerst nicht zu denken.
In Israel liest Selma Meerbaum-Eisingers einstiger Klassenlehrer Hersch Segal das »Poem« Celans in einer DDR-Anthologie, sucht
nach den Freundinnen des toten Mädchens und findet sie im Lande. Auf eigene Kosten gibt er 1976 einen Privatdruck heraus.
Nach des Sternreporters Serke Artikel kommen die Gedichte noch im Herbst 1980 in Deutschland heraus. Sie werden auf unzähligen
Literaturveranstaltungen rezitiert, mehrfach vertont. Drei Theaterstücke über Selma erscheinen.
»The World Quintet«, eine Schweizer Gruppe (heute "KOLSIMCHA"
),
bringt 2003 eine CD heraus:
Dort singt Herbert Grönemeyer "Trauer"
Trauer
Lichter spiegeln sich in schmutzig-nassen Pfützen,
gelb und fettig, schmutzig auch und schwer.
Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.
Tore hallen hehr und leer.
Liegt der Nebel müde auf den Straßen
und der Regen rinnt und rinnt.
Menschen sind zu traurig, um sich noch zu hassen,
und es hüstelt irgendwo ein Kind.
In den Gärten liegen halbverfaulte Blätter,
stehen Bänke, traurig, naß und grau,
kommt die Sonne immer seltener und später,
nimmt's der Mond mit Scheinen nicht genau.
Dringt das halbe Tageslicht noch durch den Nebel,
trüb und grau und klebrig schwer.
Klirrt die Wache schläfrig mit dem Säbel
und ein nasser Vogel zittert sehr.
Stehen dürre, hungerige Pferde
dampfend da, mit müden Augen.
Ganz durchweicht, verstreut auf nasser Erde,
kann der Hafer nicht mehr taugen.
An der moderigen Mauer
eine nasse Katze schleicht.
Mit hervorgekehrtem Pelz ein Bauer
schaut, ob ihm das Geld noch reicht.
Selma Merbaum * 1924 in Czernowitz, Bukowina, Tochter eines Schuhhändlers, die Mutter eine Groß-Cousine von Paul Celan.
Als Selma neun Monate ist, stirbt ihr Vagter, die Mutter heiratet drei Jahre später Leo Eisinger.
Selma besucht bis 1940 das ehemals private, jüdische Mädchenlyzeum.
Schon früh beginnt sie mit der Lektüre jener Autoren, die großen Einfluss auf ihr eigenes Werk ausüben sollten: Heinrich Heine,
Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore. Eigene Gedichte sind von ihr ab 1939 erhalten.
Sie übersetzt auch aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das 1940
von Rumänien an die Sowjetunion abgetretene Czernowitz im Juli 1941, zwingen die deutschen Besatzer Selma, ihre Mutter
und ihren Stiefvater Leo Eisinger ab Oktober 1941, im Ghetto der Stadt zu leben.
Mit der letzten "Aushebung" Juni deportieren die Deutschen Selma mit Familie und Verwandten in das Arbeitslager
Michailowka östlich des Bugs. Sie zwingen dort die Häftlinge, Steine für den Straßenbau zu hacken.
Selma stirbt am 16. Dezember 1942 entkräftet an Fleckfieber.
Selma Merbaum-Eisngers Werk umfasst 58 Gedichte, die sie sorgfältig mit Füller auf Einzelseiten schreibt und zu einem
"Blütenlese" betitelten Album bindet.
Auf dem Weg in die Deportation kann sie es einem Bekannten zustecken.
Das schmale Werk der jungen Autorin gehört neben den Gedichten Rose Ausländers und Paul Celans
zum großen literarischen Erbe der ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur der Bukowina.