Irgendetwas in mir ist nie ganz fertig geworden,
irgendetwas fehlt mir,
sodass ich kein richtiger Mann bin,
nur ein alt gewordener Mensch,
ein alt gewordener Gymnasiast,
wie Erich Kästner einmal von mir gesagt hat.




Jeder fixt für sich allein
Hans Fallada

Das Leben von Rudolf Ditzen, Pseudonym Hans Fallada, ist eines der großen Mysterien der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Es sind durchaus goldene Jahre des deutschen Bürgertums, in denen er aufwächst. Der Vater, hochrespektabler Kammergerichtsrat am 1. Strafsenat in Berlin, spielt mit der Mutter abends vierhändig Klavier, bevor er der Familie vorliest: Jean Paul, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane.
Siebenzimmerwohnung in Schöneberg, der Sohn besucht das Gymnasium, wo er verträumt, ängstlich, mit Schafproblemen, schnell zum Außenseiter wird. Er weint gern und viel. Die Klassenkameraden schließen Wetten ab, wann bei Ditzen das nächste Mal die Tränen fließen. In den Pausen: "Ich sehe mich da noch stehen, blass, kränklich, verzweifelt in meinem Mauerwinkel. Die ganze Penne freut sich ihrer Freiviertelstunde, mir war sie eine Qual."

Er flüchtet, sucht neue Welten in den Büchern und Gerichtsakten der väterlichen Bibliothek, spielt mit seinen Haustieren, die er manchmal quält und sogar erwürgt. Die Erlösung durch den Tod scheint ihn zu faszinieren. Selbstmordgedanken, er versucht es mit Gift, will sich die Halsschlagader durchschneiden, sich erschießen.
Schließlich Duell mit seinem


Freund Hanns Dietrich von Necker

bei dem sie sich gegenseitig töten wollen. Auf einer Waldlichtung bei Rudolstadt markieren sie im Oktober 1911 ihre Herzen, der eine mit einer Schleife, der andere mit einer Blume. Die jeweils ersten Schüsse gehen daneben. Beim zweiten Versuch trifft er Necker, der blutend zu Boden fällt. Als der um einen weiteren Schuss bittet, tötet ihn Fallada, richtet dann den Revolver auf sich selbst, drückte zweimal ab.
Anklage wegen Mordes, Rudolf Ditzen wird nach einem psychiatrischen Gutachten für strafunmündig erklärt. Er leide an einer krankhaften Gemütsdepression.
Eineinhalb Jahre geschlossene Anstalt mit Fußbodenheizung und persönlichem Pfleger. Körperliche Arbeit an der frischen Luft zum Ausgleich für seine seelische Haltlosigkeit. In den folgenden 20 Jahren Arbeit auf landwirtschaftlichen Gütern.
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verfällt er in Berlin zum ersten Mal bewusst dem Morphium. Das Betäubungsmittel ist die Droge der Zeit.

Ein sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein.
Meine einzige Geliebte ist jetzt das Morphium.
Sie ist böse, sie quält mich unermesslich,
aber sie belohnt mich über jedes Begreifen hinaus.
Wie begrenzt warst du, Frau.
Diese Geliebte ist wahrhaft in mir.
Sie füllt mein Hirn mit einem hellen, klaren Lichte.

Die Sucht will finanziert sein, sein erster Roman

erscheint, bringt nichts ein. Er wird wieder "Kartoffelbeamter", unterschlägt Geld bei Getreideverkäufen: Sechs Monate Gefängnis.
Neue Anstellungen auf Gütern in Pommern und Holstein, neue Unterschlagungen. März 1926: Zweieinhalb Jahre Gefängnis.
Er ist 34, als er wieder frei kommt. In Hamburg tritt er dem Guttempler-Orden bei, der sich gegen Drogen und Alkohol engagiert. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Adressenschreiben auf Briefe. Bald muss er wieder seine Eltern anpumpen.

Er lernt Suse kennen, die engelsgleiche Gestalt, Vorbild für die Heldenfigur in

1932 erschienen - Welterfolg. Tragischer Zufall: Falladas Durchbruch fällt mit der Machtergreifung der Nazis zusammen. Er hatte das Zeug, eine Art deutscher Balzac zu werden, hatte das Gespür für gesellschaftliche Konflikte und das Talent, sie virtuos zu erzählen - aber in Deutschland sind nun Menschen an der Macht, die eine andere Welt wollen, eine vermeintlich saubere, sittsame Welt, in der alles dem Völkischen und der Rasse untergeordnet wird, eine ideologisch statische, eindimensionale, im Grunde brutal öde Welt. Schnell wird er als Feind ausgemacht. Ein Vermieter hetzt ihm die SA auf den Hals, zehn Tage Knast.
"Fauliger Aasgeruch", diagnostiziert der Nazischriftsteller Will Vesper, Vater des späteren Lebensgefährten von Gudrun Ensslin und linken Schriftstellers Bernward Vesper.
Die Zeit der Anpassung beginnt. Im Vorwort zu 'Wer einmal aus dem Blechnapf frisst' schreibt Fallada gegen den resozialisierenden Strafvollzug der Weimarer Republik (dessen Nutznießer er selbst war) an, unterschreibt Briefe sogar mit "Heil Hitler".
Aber: Das Regime brandmarkt ihn als unerwünschten Schriftsteller, seine Auflagen und Umsätze brechen ein, er zieht sich nach Carwitz zurück.

Der Hof am Wasser ist der Gegenentwurf. Kühe, Pferde, Stachelbeeren, Pflaumen, Apfel, Ehefrau Anna, genannt Suse, drei Kinder. Gegen Ende des Kriegs tauscht er das Idyll gegen die zerbombte Großstadt und Suse gegen eine junge Frau, die dem Morphium noch heftiger zuspricht als er selbst. Er muss sogar seine geliebten Bücher verkaufen. Goethe gegen Morphium.
Mit dem Roman 'Wolf unter Wölfen' läuft er 1937 noch einmal zu großer Form auf. Wieder versucht er, das packende Gesellschaftsporträt über das Inflationsjahr 1923 mit einem Vorwort zu entschärfen, wieder geißeln ihn die Nazikritiker.
Selbsthass, Tobsuchtsanfälle, 1944 greift er im Ehestreit zur Pistole, feuert auf Frau Suse. Aus dem Schlaf heraus verhaftet, Strafanstalt Neustrelitz. Hier verfasst er den pothum (1950) veröffentlichten Roman

Wieder draußen, verlobt er sich mit einer jungen Frau namens


Ursula Losch.

Gibt zwar der Beziehung keine echte Chance, heiratet aber trotzdem. Losch liebt den Rausch genauso wie er, nur bei der Beschaffung von Morphiurn ist sie noch hartnäckiger.
Nach Kriegsende wird Fallada Bürgermeister in Feldberg. Es gelingt ihm, den Kulturfunktionär der Sowjetischen Besatzungszone, Johannes R. Becher, für sich einzunehmen.
Becher besorgt dem Paar eine Villa in Pankow, Lebensmittelmarken für Fleisch und Cognac. Außerdem lässt er Fallada die Akten eines Proletarierehepaares in die Hand drücken, das zum Widerstand gegen das Naziregime aufgerufen hatte. Die Nazis richten das Ehepaar hin. Fallada schreibt in 24 Tagen 'Jeder stirbt für sich allein'.
Als das Morphium schwindet und die Tobsuchtsanfälle zunehmen, wird Fallada in der geschlossenen Psychiatrie der Charité untergebracht, Studenten als Schauobjekt vorgeführt.
ln der nächsten Klinik lebt seine Frau ein Stockwerk über ihm, versorgt ihn mit Cognac, Zigaretten und wohl auch Morphium. Am 5. Februar 1947 liegt Fallada leblos in seinem Krankenbett.



Die Geschichte des Arbeiterehepaars Hampel aus Berlin, das mit einfachsten Mitteln Widerstand gegen Hitlers Regime leistet und grausam hingerichtet wird, erzielt mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sechsstellige Auflagezahlen vor allem in England, Frankreich, den USA und Israel.
Das Leben des Verfassers selbst ist eine Erzählung über die Abgründe der Moderne - Haltlosigkeit ringsum. Das Bürgertum seiner gediegenen Eltern lehnt der Hochbegabte ab, Religion ist ihm dank Nietzsche kein Halt, das Leben an sich hat keinen Wert, die Gifte beflügeln ihn in seiner Sehnsucht nach Ausbruch aus der verhassten Normalität, dazu immer äußerer Druck - Hyperinflation und Massenarmut der Weimarer Republik, der Aufstieg Hitlers, die Anfeindungen durch die Nazis, das Umschmeicheln durch Goebbels, das Hadern eines ehemaligen SPD-Mitglieds und Familienvaters im Unrechtsstaat zwischen Gehen und Bleiben. Wirre, gefährliche Zeiten, in denen Fallada eigentlich nur ein Ziel hat: ein großer Schriftsteller zu sein.



Jeder stirbt für sich allein - Trailer