Drei Schüsse - blutüberströmt liegt ein Mann auf dem Trottoir des Kurfürstendamms vor dem Domizil des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Der Attentäter: ein 23 Jahre alter Neo-Nazi namens Josef Bachmann, in dessen Zimmer ein selbstgemaltes Porträt von Adolf Hitler hängt. Er ruft: "Du dreckiges Kommunistenschwein" bevor er abdrückt. Das Opfer:
Rudi Dutschke.
Für brave Bürger ist er Sinnbild des Bösen und Bedrohlichen. Die Journalisten des Springer-Verlags haben den Soziologiestudenten zum Staatsfeind aufgebaut. In Todesangst ruft er nach Vater und Mutter.
"Sieh mal an, wenn's ans Sterben geht, ruft sogar der nach Vater und Mutter", sagt ein Passant. Ein anderer: "Man braucht ja nicht gleich zu schießen, aber dass der mal einen Denkzettel abgekriegt hat, ist ganz gut."
Die bleiche Stirn vom nachtschwarzen Schopf überflattert, das Kinn von Stoppeln verschattet, die dunklen Augen
unter buschigen Brauen ekstatisch entflammt. Den tief in die hageren Wangen eingekerbten Mund aufgerissen
zu angestrengter Artikulation" (SPIEGEL)
Das Berliner Schwurgericht verurteilt Bachmann wegen Mordversuchs zu sieben Jahen. Er begeht 1970 Selbstmord. Lange hält man ihn für einen Einzeltäter, doch später zeigen Stasi-Akten, dass er sich in der militanten Neonazi-Szene seines Wohnortes Peine bewegte und mehrfach bei einem illegalen Waffenhändler der rechtsradikalen Truppe mit Pistolen und Munition eingedeckt hat.
Dutschke schreibt Bachmann später verzeihende Briefe ins Gefängnis.
Am Tag des Attentats demonstrieren Studenten in Hamburg. Sie machen die Bild-Zeitung für die Schüsse auf Dutschke
mitverantwortlich. "Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!" hat die Zeitung geschrieben. Und dass man "auch nicht die
ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen" sollte. Ganz ähnlich titelt die rechtsextreme
"Deutsche National-Zeitung": "Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg" - beim Attentat trägt Bachmann diesen
Ausschnitt nebst Dutschke-Fotos bei sich.
An Heiligabend 1979 stirbt Rudi Dutschke 39jährig im dänischen Aarhus an den Spätfolgen des Attentats.
Zu Hause erleidet er in der Badewanne einen epileptischen Anfall und ertrinkt.
1977: Rudi Dutschke spricht mit Besuchern der documenta 6 in Kassel. Dutschke will die Aktivitäten der APO in einer ökosozialistischen Partei bündeln und absolviert ab Mitte 1979 zusammen mit Künstler Joseph Beuys gemeinsame Wahlkampfauftritte für Vorläufer der Grünen, die als Bundespartei Januar 1980 gegründet wird - drei Wochen nach Dutschkes Tod.
Biografie
Rudi Dutschke, als vierter Sohn eines Postbeamten 1940 geboren, wächst in der DDR auf, ist in der evangelischen
Jungen Gemeinde von Luckenwalde aktiv. Als Leistungssportler (Zehnkampf) will er Sportreporter werden und um seine Chancen für die entsprechende Ausbildung zu erhöhen, tritt er 1956 in die FDJ ein.
Er verweigert den Wehrdienst in der NVA, ruft andere auf, es ihm gleichzutun.
Sein DDR-Abitur ist im Westen nicht als Hochschulreife anerkannt, er besucht bis 1961 einen Abiturkurs in Berlin-West,
bewirbt sich erfolgreich als Sportreporter bei der B.Z. (Axel Springer AG), flüchtet aus der DDR.
An der FU Berlin studiert er Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft, beschäftigt sich mit Existentialismus,
Geschichte der Arbeiterbewegung.
1964 organisiert Dutschke eine Demonstration gegen den Staatsbesuch des kongolesischen Premierministers Moïse Tschombé,
an der auch der Berliner SDS teilnimmt, dem er 1965 beitritt. Ab 1966 organisiert er mit dem SDS zahlreiche
Demonstrationen für Hochschulreformen, gegen die Große Koalition, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg.
Die Studentenbewegung verknüpft diese Themen und Kritik an der mangelnden Aufarbeitung der nationalsozialistischen
Vergangenheit miteinander, versteht sich als Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO).
1966 Heirat mit Gretchen Klotz und Vorbereitung des bundesweiten Vietnamkongress in Frankfurt/M.
Die FU verlängert Dutschkes Assistentenvertrag nicht, seine akademische Laufbahn ist beendet.
1967, bei der Demonstration gegen den Schah-Besuch erschießt der Polizist Kurras den Studenten Benno Ohnesorg.
Daraufhin ruft der SDS bundesweit zu Sitzblockaden auf, um die Aufklärung der Todesumstände zu erzwingen,
fordert den Rücktritt der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz und die Enteignung Axel Springers,
die Stundenten machen dessen kampagnenartige Berichterstattung für Ohnesorgs Tod mitverantwortlich.
Podiumsdiskussionen und Interviews, etwa mit Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf und Günter Gaus, machen Dutschke bundesweit bekannt. Er polarisiert und erfährt zunehmend Ablehnung und Hass.
1968 Vilshofen: Der Abschaum sind Deutschlands rebellische Studenten - allen voran die "ungewaschene,
verdreckte und verlauste Kreatur Dutschke". So spricht CSU-Metzger Franz Xaver Unertl, und
empfiehlt, den roten Rudi mitsamt den anderen "Lackln und Rotzlöffeln abzuwatschn", aus den Universitäten
"hinauszuschmeißn". Bedächtig nicken ihm zu Füßen bayrische Bauern, während der Redner die
"Scheißhausparolen" der "Zersetzungsapostel im Rundfunk" geißelt.
1968 Vietnamkongress an der Berliner TU, Abschlussdemonstration mit über
12.000 Menschen. Dutschke ruft zur massenhaften Desertion US-amerikanischer Soldaten und zur
„Zerschlagung der NATO“ auf. Die von ihm ursprünglich geplante Demonstrationsroute zur McNair-Kaserne
gibt er auf, die US-Militärs haben Schusswaffengebrauch angekündigt.
1968 Bachmann-Attentat.
In monatelanger Sprachtherapie eignet sich Dutschke mühsam wieder Sprache und Gedächtnisban.
1970 beginnt er ein Studium in Cambridge beginnen. Die Umzugskosten in Höhe trägt Bundespräsident Gustav Heinemann
aus eigener Tasche. Nach Entzug der Aufenthaltserlaubnis geht Dutschke 1970 nach Aarhus/Dänemark,
wo ihn die Universität als Soziologiedozenten anstellt.
Ab 1972 bereist Dutschke wieder die Bundesrepublik, spricht mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten,
besucht Ost-Berlin, wo er Wolf Biermann trifft, mit dem er fortan befreundet ist. Auch mit anderen SED-Dissidenten
wie Robert Havemann und Rudolf Bahro nimmt er Kontakt auf. 1973 Dr. phil. Thema:
„Zur Differenz des asiatischen und europäischen Weges zum Sozialismus“.
Er nimmt Kontakt zu Atomkraftgegnern auf, nimmt an
Großdemonstrationen gegen Atomkraftwerke in Wyhl am Kaiserstuhl, Bonn und Brokdorf teil, organisiert und leitet
1978 den Bahro-Solidaritätskongress.
1980 wird Dutschke in Berlin beigesetzt, etwa 6.000 Gäste begleiteten den Trauerzug.
Dutschke hat drei Kinder:
Sohn Hosea Ché geboren 1968, Tochter Polly Nicole geboren 1969
und Sohn Rudi-Marek geboren 1980
mit Frau Gretchen Klotz, geb. USA 1942, verheiratet 1966
Weltanschauung
Rudi Dutschke versteht sich immer als demokratischer Sozialist. In seiner Studienzeit entwickelt er sich zu
einem überzeugten revolutionären Marxisten in den freiheitlichen Traditionen der Arbeiterbewegung, der sich vom Reformismus
ebenso wie vom Stalinismus abgrenzt.
Sein Ziel ist Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft durch eine „Weltrevolution“.
Christentum habe ich insofern bis zu meinem Abhauen aus der DDR nie als Staatskirche, nie als Herrschafts-Opium
kennengelernt. Es ging immer darum, die Liebe und Hoffnung auf bessere Zeiten nicht untergehen zu lassen.
Jesus Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst - diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings
nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit, die gleichermaßen und vielleicht noch mehr
erkämpft sein will.
Das Christentum sieht er als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit.
Dutschke versucht, die marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf die Gegenwart anzuwenden und weiterzuentwickeln.
Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik sieht er als Teil eines weltweiten komplexen Kapitalismus, der alle Lebensbereiche
durchdringt und die lohnabhängige Bevölkerung unterdrückt. Die soziale Marktwirtschaft beteiligt das Proletariat
zwar am relativen Wohlstand der fortgeschrittenen Industrieländer, bindet es dadurch aber in den Kapitalismus
ein und täuscht es über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinweg.
Repräsentative Demokratie und Parlamentarismus sind für Dutschke Ausdruck einer repressiven Toleranz,
die die Ausbeutung der Arbeiter verschleiert und die Privilegien der Besitzenden schützt. Diese Strukturen sieht er als
nicht reformierbar an; sie müssten vielmehr in einem langwierigen, international differenzierten Revolutionsprozess umgewälzt
werden, den "Marsch durch die Institutionen".
In der Bundesrepublik erwartete Dutschke nach dem Wirtschaftswunder eine Periode der Stagnation:
Die Subventionierung unproduktiver Sektoren wie Landwirtschaft und Bergbau werde künftig nicht mehr finanzierbar sein.
Der dadurch absehbare massive Abbau von Arbeitsplätzen im Spätkapitalismus werde eine Strukturkrise erzeugen,
die den Staat zu immer tieferen Eingriffen in die Wirtschaft veranlassen und in einen integralen Etatismus
münden werde: Dieser aus einer Analyse Max Horkheimers von 1939 übernommene Begriff beschreibt einen Staat,
der die Wirtschaft lenkt, aber das Privateigentum formal beibehält. Dieser Zustand sei nur mit Gewalt gegen die aufbegehrenden
Opfer der Strukturkrise zu stabilisieren.
Im technischen Fortschritt sieht Dutschke Ansatzpunkte für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung: Automatisierung,
Computerisierung und Nutzung der Atomkraft zu friedlichen Zwecken ließen die Notwendigkeit der Lohnarbeit zunehmend wegfallen.
Damit werde Arbeitszeit freigesetzt, die gegen das System aktiviert werden könne. Für den nötigen Umsturz fehle
der Bundesrepublik jedoch ein revolutionäres Subjekt. Gestützt auf Marcuses Der eindimensionale Mensch glaubt Dutschke,
ein gigantisches System von Manipulation stelle eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr
aus sich heraus fähig sind, sich zu empören.
Die deutschen Proletarier lebten verblendet in einem falschen Bewusstsein und könnten die strukturelle Gewalt des
kapitalistischen Staates daher nicht mehr unmittelbar wahrnehmen. Eine Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche
sei damit geschichtlich unmöglich geworden.
Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament
keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung - die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung - ausdrücken.
Sie können jetzt fragen: Welche wirklichen Interessen? Aber da sind Ansprüche da. Sogar im Parlament.
Wiedervereinigungsanspruch, Sicherung der Arbeitsplätze, Sicherung der Staatsfinanzen, in Ordnung zu bringende Ökonomie,
all das sind Ansprüche, die muss aber das Parlament verwirklichen. Aber das kann es nur verwirklichen,
wenn es einen kritischen Dialog herstellt mit der Bevölkerung. Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen den
Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.
Der Faschismus wirkt für Dutschke auch in der Gegenwart fort.
Der heutige Faschismus ist nicht mehr manifestiert in einer Partei oder in einer Person, er liegt
in der tagtäglichen Ausbildung der Menschen zu autoritären Persönlichkeiten, er liegt in der Erziehung,
kurz in der entstehenden Totalität der Institutionen und des Staatsapparats.
Diese Persönlichkeitsgrundlage des Faschismus wurde auch durch die äußerliche Niederlage
des Faschismus in Deutschland nicht überwunden, konnte vielmehr im wesentlichen ungebrochen
in Antikommunismus transformiert werden.
1968
Hart und erbarmungslos sind die Auseinandersetzungen auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte,
die vor 50 Jahren die Bundesrepublik erschüttert. Linke gegen Rechte. Junge gegen Alte.
Kriegskinder gegen Nazi-Eltern. Idealisten gegen moralisch Ausgebrannte.
Nach dem großen Vietnamkongress des SDS Mitte Februar 1968 rufen der West-Berliner Senat und
Gewerkschaften zu einer Gegendemonstration für Frieden und Freiheit auf.
Die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes bekommen frei, der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD):
"Wir lassen uns unser freiheitliches Berlin nicht zertrampeln."
Transparente: "Laßt Bauarbeiter ruhig schaffen - Kein Geld für langhaarige Affen"
und
"Dutschke - Volksfeind Nummer 1". Einen jungen Mann, der Dutschke ähnlich sieht, will die Menge
an Ort und Stelle lynchen. Er kann sich mit letzter Kraft in ein Polizeiauto retten.
Am Abend nach dem Attentat auf Dutschke versammeln sich im Audimax der TU
an die 2000 fassungslose, aufgewühlte Studenten und Jugendliche. Während Dutschke im Krankenhaus um sein Leben ringt,
erklärt ein SDS-Aktivist: "Der Lügner und der Mörder heißt Springer.
Das Attentat von heute Nachmittag ist ein öffentlich vorbereitetes Attentat, begonnen durch den Springer-Konzern."
Mit der Nachricht vom Attentat auf Dutschke springt der Funke der Revolte von West-Berlin nach West-Deutschland über.
In 27 Städten kommt es an den Ostertagen 1968 zu Protesten, teilweise zu Straßenkämpfen. So etwas hat
die 19 Jahre junge Bundesrepublik bislang nicht erlebt.
"Gestern Dutschke, morgen wir", skandieren Demonstranten in München. In der bayerischen Landeshauptstadt
kommen der Fotograf Klaus-Jürgen Frings, 32, und der Student Rüdiger Schreck, 27, zu Tode.
Frings wurde von einem Stein am Kopf getroffen, Schreck von einem stumpfen Gegenstand.
Ihre Todesumstände wurden nie genau aufgeklärt.
Dutschke und die RAF
Dutschke reflektierte jede Aktionsform und verknüpte sie mit einer politischen Situationsanalyse.
Er hielt theoretisch Attentate auf Tyrannen für legitim, aber nur als unmittelbaren Auslöser für eine Volksrevolution.
Wegen dieser fehlenden Voraussetzung lehnte er Anschlagspläne auf Diktatoren ebenso wie Terror für die Bundesrepublik ab.
Miermeister, Dutschke war „zwar kein Pazifist, aber in letzter Konsequenz weder Anarchist noch putschistischer Marxist-Leninist,
sondern Christ“, der vor Gewalt gegen Menschen zurückschreckte.
Der Hamburger Sozialwissenschaftler Wolfgang Kraushaar stellt in seiner dreibändigen Chronik die
westdeutschen Studentenbewegung dar.
In ihrer 1996 erschienenen Biografie stellt Gretchen Dutschke-Klotz auch Dutschkes widersprüchliche Haltung
zu bewaffneter Gewalt dar:
Anfang 1969 war auch Rudi bereit, in den Untergrund zu gehen, falls die Bedingungen dafür gegeben waren.
Die Illegalität schien Rudi notwendig, wenn es überhaupt gelingen sollte, neue Strukturen im herrschenden System aufzubauen.
Doch es war eine ungelöste Frage, wie diese Illegalität aussehen sollte. Rudi gelang es nicht, legitime Formen der Gewalt sauber
von illegitimen zu trennen.
Er habe Angriffsplänen mit Molotowcocktails auf eine britische Fluggesellschaft damals nicht widersprochen,
nur eigene Teilnahme abgelehnt. Klar sei für ihn gewesen, dass auch illegaler Widerstand nicht von der
Bevölkerung isolieren und keine Menschen gefährden sollte.
Erich Fried brachte das Bild eines „pazifistischen Revolutionärs“ auf, der Ulrike Meinhof vom Weg in die Illegalität abgehalten hätte,
wenn sie länger Kontakt gehabt hätten. Doch Dutschke habe „mehrere Gesichter“ gehabt: Er sei schon vor Beginn
der Studentenbewegung gewaltbereit gewesen. Seine „Sprengstoff-Episoden“ seien Ausdruck und Folge seines
Aktionskonzepts gewesen.
Gretchen Dutschke-Klotz:
Rudi wollte die Unterwürfigkeit als Persönlichkeitsmerkmal der deutschen Identität abschaffen.
Er war kein „Nationalrevolutionär“, sondern ein internationalistischer Sozialist, der im Gegensatz zu
anderen begriffen hatte, dass es politisch falsch war, die nationale Frage zu ignorieren. Er suchte
etwas ganz Neues, das nicht anschloss an die autoritäre, nationalchauvinistische deutsche Vergangenheit.
Für Klaus Meschkat besteht Dutschkes bleibende Bedeutung in seiner Suche nach wirksamen Widerstandsformen:
„Wenn Millionen friedlicher Demonstranten in ganz Europa einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht verhindern konnten –
sollten wir nicht erst einmal mit Interesse und Sympathie auf die Versuche Rudi Dutschkes und
seiner Freunde zurückblicken, die amerikanische Kriegsmaschine zum Halten zu bringen?“
Danach
Helmut Gollwitzer erinnert
in seiner Trauerrede an das letzte Telefonat Dutschkes an seinem Todesabend. Der Anrufer habe ihn an seine Anfänge
bei der christlichen Gemeinde in Luckenwalde erinnert: „Rudi, du hast nie
verlassen, wovon du ausgegangen bist, deine Anfänge bei der Jungen Gemeinde in der DDR und bei
der Kriegsdienstverweigerung…“ Dem habe Dutschke zugestimmt. Er habe nicht „Führer, Chefideologe,
Autorität“ sein wollen, aber zu den Revolutionären gehört, die „auf dieser Erde nicht alt geworden sind“.
Jürgen Habermas bezeichnet Dutschke als „wahrhaften Sozialisten“. Er sei „… Charismatiker einer Intellektuellenbewegung,
der unermüdliche Inspirator, ein hinreißender Rhetor, der mit der Kraft zum Visionären durchaus den Sinn fürs Konkrete, für das, was
eine Situation hergab, verbunden hat.“
Wolf Biermann singt in seinem Trauerlied am 3. Januar 1980 mit Bezug auf persönliche Begegnungen:
„Mein Freund ist tot, und ich bin zu traurig, um große Gemälde zu malen – sanft war er, sanft, ein bißchen zu sanft
wie alle echten Radikalen.“
Walter Jens: er sei „ein friedliebender, zutiefst jesuanischer Mensch“ gewesen.
Für Ulrich Chaussy begimmt die „Konstruktion eines Mythos“ schon zu Dutschkes Lebzeiten. Dieser habe seiner Idolisierung
zu widerstehen versucht und nur Tage vor dem Attentat für einen geplanten Fernsehfilm von Wolfgang
Venohr seinen Rückzug aus der Studentenbewegung angekündigt, um der Personalisierung gesellschaftlicher
Konflikte entgegenzuwirken. Chaussy erklärt das Misslingen dieser Absicht:
„Fast alle ehemaligen Genossen hatten Schuldgefühle, weil Rudis Tod, weil die Kugeln im Kopf
soviel Stellvertretendes hatten, weil jede und jeder spürte: alle, die in dieser Revolte aufbegehrten,
waren gemeint. Das passiert den frühen Toten eben, den Popstars wie den Revolutionären und so auch Rudi Dutschke.
Sie selbst können sich nicht mehr einmischen.“
Was weiß ein 1966 geborener Kapitalist?
Die 68er haben ihre Erfolge verklärt und ihr Versagen verdrängt.
Mit 50 Jahren Abstand offenbart sich der ganze hohle Bombast von 68. Man sieht die Bilder wieder von Dutschke,
seinen manischen Blick, hört seine demagogische Rhetorik. Man hört, was er sagt, ohne recht zu verstehen,
was er sagen will.
Die Bilder wirken alle sehr alt. Wie aus einem anderen Jahrhundert. Sie stammen ja auch aus einem anderen Jahrhundert.
Die Studentenbewegung und ihr kranker Ast
der RAF hatten ein wirres Weltbild, das zwischen Philosemitismus und Palästinenserlager munter oszillierte.
Man hing den falschen Idolen an, heroisierte und verklärte. Man las unlesbare Bücher über den eindimensionalen Menschen,
und in Ermangelung von substanzieller Politik wurde das Private zur Politik erhoben.
Was immer das heißen sollte. Und was auch immer daran neu sein sollte.
An der Verklärung der 68er hatte die verpönte Massenpresse, hatte namentlich Der Spiegel [bei dem auch ein Schwennicke schrieb!],
maßgeblichen Anteil. Es gab eine Symbiose, eine Existenz zum beiderseitigen Nutzen.
Nur die 68er leisten sich die Position, alles richtig gemacht zu haben, jedenfalls richtiger als die Vorgängergeneration
und richtiger als die Nachfolgergeneration.
Ihre Geisteshaltung war ein Luxusphänomen. Sie war nur möglich in einer Phase der Prosperität, die sich aus Marshallplan
und Aufbauwillen speiste. Sie waren die frühen Wohlstandsverwahrlosten. In ihrer Luxusnische hatte es sich
diese Generation gemütlich gemacht und sich ihren Luxusproblemen gewidmet. 68 hat uns,
die heutige 50-plus-Generation, auch noch in seinen Ausläufern erwischt, und, ja, es hat Spaß gemacht.
Es hat Spaß gemacht, in der Menschenkette vor den Wiley Barracks in Neu-Ulm zu stehen und gegen
die Pershings zu demonstrieren. Es hat Spaß gemacht, weil die Coolen dort hingegangen sind und die
tolleren Mädchen auch. Solche wie Roland Koch blieben daheim, und Freaks wie Joschka Fischer gingen hin,
solche wie Uschi Obermaier auch.
So viel kann man heute feststellen: Kuba ist es jedenfalls auch nicht. Die Rebellion gegen das Establishment
hatte etwas Zielloses, rebelliert wurde um der Rebellion willen.
Wären die Folgen nicht bis heute spürbar, könnte man ohnehin mit mehr Milde über die Verirrten hinwegsehen,
oder einfach nur laut lachen. Aber sie haben Verheerung angerichtet, die bis heute nachwirkt.
Sie haben dem Land Umwege zur Vernunft auferlegt, an deren retardierendem Moment wir heute noch
leiden. Sie haben Verirrung gestiftet, ihre Fehlurteile und Fehleinschätzungen werden bis heute mühsam abgetragen.
Es hat sich erwiesen, dass die Nachrüstung nicht schön, aber richtig war. Man saß also falsch vor Mutlangen
und in Neu-Ulm. Die klassische Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kindern hat sich inzwischen auch wieder durchgesetzt.
Man muss sie nicht perfekt finden und nicht heiligsprechen. Aber unter den schlechten Möglichkeiten ist sie die beste,
und für die Kinder auch bekömmlichste.
Diese Generation ist wie eine fallen gelassene Masche in einem Strickwerk: Die Laufmasche
zieht sich durch den ganzen Pullover. 68 ist mitverantwortlich dafür, dass die Linke immer noch
der Wirklichkeit hinterhereilt.
Frankreich und Deutschland kranken bis heute daran, Frankreich noch ein bisschen mehr als Deutschland.
Geradezu drollig mutet von heute aus betrachtet an, wie sie ihrer Selbstsucht und ihrem Narzissmus
ein ideologisches Kondom überstülpten. Natürlich war es undenkbar, Kinder in diese Welt zu setzen,
weil diese Welt doch immer schlechter und immer ungesünder wird, voller Atombomben und AKWs,
und man das Kinderkriegen also überhaupt nicht verantworten kann, schon allein wegen des Kindes.
Tatsache ist, dass so ein Kind oder am Ende mehrere ganz schön anstrengend sein können
und stark einschränken bei der ach so freien Entfaltung der Persönlichkeit. Natürlich war
es im Germanistischen Seminar bei den Professoren dieser Generation völlig in Ordnung,
wenn einem gerade der Sinn nicht nach Seminararbeit stand, selbst wenn damit das ganze Seminar
stillstand. Leistungsdruck wäre noch schlimmer gewesen.
Der Wille zur Leistung und der Wunsch nach Kindern sind zwei Dinge, die fehlen im Deutschland eingangs
des 21.Jahrhunderts. Oder haben zumindest als geistiger Erbschaden von 68 lange gefehlt.
Sekundärtugenden hätte das ein ehemaliger SPD-Vorsitzender genannt, sicherlich.
Aber wie das Determinativkompositum schon andeutet, bei dem bekanntlich die Bedeutung
auf dem zweiten Teil des Wortes liegt: Sekundärtugenden sind vor allem Tugenden.
Und nicht vor allem sekundär.
Besonders beeindruckend sind die Lebensläufe der meisten Protagonisten nicht. Faszinierend ist nur
noch die Selbstdemontage, und der grelle Narzissmus, der zu ihr führt.
Klar, sie können uns vorwerfen, wir seien alle, einer wie der andere, lauter
kleine Westerwelles irgendwie. Wohingegen sie: knorrig und vom Leben mehrfach gebrochen und immer
gegen den Wind zu imposanten Latschenkiefern herangewachsen. Soll man nicht besser sagen:
verkrüppelt? Ihren Hohn müssen wir ertragen: Wir haben keinen Hebel gegen sie gefunden.
Die jungen Grünen haben Fischer nicht gestürzt, was sie längst hätten tun müssen.
Sie haben gewartet, bis er geht. Woanders sitzen die Herren, es sind vor allem Herren, noch immer an den Hebeln der Macht.
Fassen wir zusammen. Die 68er waren die Putztruppe, die Nazi-Deutschland ausfegte.
Besten Dank dafür. Zugleich aber waren sie der Dreck in der Düse Deutschlands, die durch sie lange verstopft blieb.
Ihre Lebensläufe erscheinen inzwischen meist kläglich und erbärmlich, weder zum Vorbild taugend,
noch jenseits der paradiesischen Bedingungen des Boom-Deutschlands, das ihnen diese Narrenfreiheit bot,
überhaupt machbar.
Die 68er haben ihre Erfolge verklärt und ihr Versagen verdrängt. Sie sind zwar oben angekommen,
aber dennoch gescheitert. Unterm Strich haben sie mehr geschadet als genutzt, unsere Helden von 68.
Und in ihrer Halsstarrigkeit und Selbstgefälligkeit erinnern sie auf ihre alten Tage sehr an das Gebaren
derer, die sie einst bekämpft haben. Aber wir sollten milde sein mit ihnen. Milder als sie mit ihrer Vorgänger-
und ihrer Nachfolgergeneration. Altersstarrsinn droht schließlich jedem früher oder später.
Wir können inzwischen auch milde sein. Denn wir haben sie bald überstanden.
[So sieht es Christoph Schwennicke (heute Herausgeber und Chefredaktuer von Cicero) 2007]
Der Cicero war schon immer ein eher liberal-konservatives Blatt. Seit Beginn der Flüchtlingsdebatte im vergangenen Sommer
nähern sich viele Texte allerdings dem rechten Rand. Da schreibt ein Autor von der „Staatsdoktrin Willkommenskultur“,
die in Deutschland herrsche, der stellvertretende Chefredakteur beschwert sich über die „linksideologischen Willkommens-Medien“
und den „sich selbst gleichschaltenden“ öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der Kulturressortleiter schreibt
über die „Umstrukturierung der Bevölkerung Deutschlands“ durch die Flüchtlinge.
Dieser neue Ton gefällt nicht allen. Michael Kraske, ein freier Autor, dessen kritischer Text über Thilo Sarrazin
von der Chefredaktion abgelehnt wurde, spricht von „Zensur“.
Ein anderer Autor, Stefan Buchen, der auch für die NDR-Sendung „Panorama“ arbeitet und für den Cicero über
die zynische Flüchtlingspolitik der EU und über Abschiebungen geschrieben hatte, beschließt,
nicht weiter für den Cicerozu schreiben, weil ihm die Inhalte „peinlich“ sind. Im Januar nennt ein Spiegel-Redakteur die
Chefredakteure des Cicero „Salonhetzer“, ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS)
nennt den Cicero-Kulturchef einen Mann, der auf Islamversteher und Flüchtlingskrisenverharmloser
„eindrischt“, aber nicht annähernd so gut einstecken kann, und der zu Populismus neigende
Jakob Augstein schreibt bei Spiegel Online, Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke betreibe
„völkische Propaganda“. Was ist passiert mit dem Magazin, dessen Chefs es als Ort der Debatte verstehen?
Im Februar dieses Jahres verkauft der Schweizer Ringier Verlag, der den Cicero 2004 in Deutschland gegründet hat,
das Heft. Christoph Schwennicke, seit 2012 Chefredakteur, und sein Stellvertreter Alexander Marguier übernehmen
es mit finanzieller Starthilfe von Ringier. Der Erfolg des Cicero ist ab jetzt für sie auch von ganz persönlichem
finanziellem Interesse. Schwennicke hat bereits das Hauptstadtbüro der Süddeutschen Zeitung geleitet und
stellvertretend das des Spiegels. Marguier leitete den Gesellschaftsteil der FAS.
Der Zeitpunkt der Übernahme ist perfekt, dem Heft geht es so gut wie noch nie. Der Cicero hat seine Auflage
in den vergangenen Monaten gesteigert: allein im ersten Quartal 2016 um rund 10 Prozent auf knapp 85.000
Hefte. Der Cicero wächst, und das in einer Zeit, in der alle anderen Magazine verlieren.