Mini-Kosmos






W.G. Sebald


Er schrieb, Sisyphos sei, als er tot war, mit Hilfe eines rechtlichen Schlichs dem Totenreich entronnen. Noch bevor Zeus Thanatos befreite, bat Sisyphos, der wusste, die erste Amtshandlung des Todes würde darin bestehen, ihn holen zu kommen, seine Frau, das angestammte Bestattungsritual nicht zu vollziehen. Als darum Sisyphos in der Unterwelt eintraf, machte Hades ihm Vorhaltungen, und wie zu erwarten, erhoben die Mächte des Schattenreichs ihr Geschrei zum Himmels- oder Unterweltgewölbe, rauften sich die Haare und waren beleidigt. Sisyphos erklärte jedoch, die Schuld läge nicht bei ihm, sondern bei seiner Frau, und bat um eine, sagen wir, richterliche Erlaubnis, zur Erdoberfläche zurückkehren und sich rächen zu dürfen.

Hades überlegte: Sisyphos’ Vorschlag klang vernünftig, und so wurde er gegen Kaution für eine Frist von drei oder vier Tagen auf freien Fuß gesetzt, genug, um gerechte Rache zu nehmen und, wenn auch ein wenig spät, die gebotenen Bestattungsrituale in die Wege zu leiten. Selbstverständlich ließ sich Sisyphos nicht lange bitten, kehrte auf die Erde zurück und lebte glücklich bis ins hohe Alter, schließlich war er nicht umsonst der listigste Mensch des Globus; erst als sein Körper ihm den Dienst versagte, kehrte er ins Totenreich zurück. Manche meinen, die Strafe mit dem Felsen habe nur den Zweck verfolgt, Sisyphos zu beschäftigen und seinen Verstand daran zu hindern, neue Schliche zu ersinnen. Aber eines Tages, wenn niemand damit rechnet, wird Sisyphos etwas einfallen, und dann steigt er wieder zur Erde hinauf ...



I’m reading Roberto Bolaño’s 2666 and it scares me shitless every day. I can’t read it at night. A week ago I had a vicious flu (thanks to a co-worker) that may yet turn out to be bronchitis, and spent two nights in a near-hallucinatory dreamlike state: at one point, I dreamed my own death, but for the most part, I simply heard voices: one or two at first, but then a rumbling cacophony, words and pieces of words, voices that had no business being in my head, that I’d never heard before.



Franz Kafka W. G. Sebald Roberto Bolaño Stieg Larsson Björn Larsson


Als Franz Kafka, 41, 1924 in Kierling an Tuberkulose stirbt, hat der Versicherungsangestellte und Sozialist nur einen Band mit ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht.
Drei Romane erscheinen nach seinem Tod: "Der Prozess", "Das Schloss" und "Amerika" - Weltliteratur.

Kurz vor dem Tode W. G. Sebalds führt ein Kollege ein Gespräch mit dem großen Schriftsteller deutscher Sprache, der in seiner Jugend ausgewandert ist nach England, weil er in Deutschland nicht mehr leben wollte.
Sebald - sein Herz schlug links und Freunde nannten ihn Max - hatte ihm seine Pläne, Projekte, seine Verzweiflung über den Universitätsalltag offenbart, das Gehörte grub sich tief in Greens Gedächtnis ein. Als er 2001 vom Unfalltod Sebalds hört (er erleidet, 56 Jahre alt, am Steuer seines Pkws bei Norwich einen Herzinfarkt), ist Greens erster Gedanke:
I had no doubt that it was these very inner conflicts, between the peace needed to write and the requirements made of the writer, which had killed him.
Sebald hinterlässt fünf Bände Weltliteratur, den Torso "Campo Santo" und viele Pläne.

Als 2002 in Barcelona der 50jährige Chilene Roberto Bolaño, Atheist, Trotzkist, Anarchist, über seinem gut 1.000 Seiten langen Roman "2666" stirbt, soll er auf eine Lebertransplantation gewartet haben - andere Quellen sprechen von einer Überdosis Rauschgift.
1978 bis 1981 arbeitet er, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, auf einem spanischen Campingplatz und lernt Miralles kennen, einen Franzose gewordenen Katalanen, dessen autobiografische Geschichten Bolaño an Javier Cercas weitergibt, der sie in seinem Roman "Soldaten von Salamis" (deutsch 2002) verarbeitet.

Am 9. November 2004 kommt in Stockholm Stieg Larsson, ebenfalls 50, Journalist, Schriftsteller und trotzkistischer Kommunist, international berühmt durch die "Millennium-Trilogie", nach der Mittagspause in sein Büro zurück. Der Enthüllungsjournalist und Rechtsextremismusexperte arbeitet täglich bis zur völligen körperlichen und geistigen Erschöpfung für das Antifa-Magazin "Expo", 1995 von ihm gegründet - als Reaktion auf tödliche Neonazi-Übergriffe in seiner (angeblich) politisch moderaten Heimat Schweden.
Larsson kollabiert auf dem Flur seiner Redaktion und stirbt am Herzinfarkt. Sein als Dekalog geplantes "Millennium"-Werk bleibt unvollendet.

1991 setzt Ulf, das Alter Ego des großen schwedischen Autors Björn Larsson, in einer Vollmondnacht beim Leuchtfeuer Dub Artach Segel, Kurs West. Während eines Segeltörns von Dänemark zu den Hebriden wird er in kriminelle Handlungen im Kampf der Kelten für Freiheit und Unabhängigkeit verwickelt, ist auf der Flucht vor dem Ring und anderen fanatischen Organisationen in Europa. 2001 erscheint "Kap Zorn" - nach "Der Keltische Ring" von 1992, Pflichtlektüre für alle Schottland-Segler ...



Männer, die Frauen hassen, das Mädchen, das mit dem Feuer spielt, das Luftschloss, das gesprengt wird, das Meer und sein Zorn, Erinnerung und Tod - Themen der 5 Schreiber, aber nur vordergründig, dahinter steht immer die Autobiografie ihrer Erzähler:
Bei Kafka die Verhaftung von Josef K., K. der Landvermesser im Dorf beim Schloss und K. in der Neuen Welt, bei Sebald der ruhelos wandernde Emigrant, der alles sammelt, was ihm andere erzählen, auf dass es nicht vergessen werde, bei Bolaño Soldat Benno von Archimboldi alias Reiter, 1920 geborener deutscher Vielschreiber, dem andere auf der Spur sind, bei Stieg Larsson das Jahrtausend, in dem Microsoft seine Fenster als Millennium Edition virtuell öffnet und wo man Achterbahn fährt auf Millennium Force, bei Björn Larsson der segelnde Einsiedler, der bei Durchquerung des Corryvreckran alles riskiert.





Dicks Maschinenpistole und Marys Revolver hatte ich ins Meer geworfen, weil ich sie nie mehr benutzen wollte. Unser Heil lag einzig in der Flucht. Schon das, was ich wußte, reichte aus, uns ein Leben lang zu gefährden. Solange sich Mary an Bord befand, konnte alles geschehen, falls der Ring oder irgendeine andere der fanatischen Organisationen, denen Dick und O’Connell angehörten, uns aufspürten.

Mary kehrte allmählich ins Leben zurück. Sie und Torben haben die Rustica schon seit langem verlassen, und sie sind jetzt weit fort. Mary und ich sind einander niemals nähergekommen, trotz einiger linkischer Versuche. Torben und ich sind nach wie vor Freunde, etwas aber hat sich verändert. Nach und nach habe ich eingesehen, daß seine Liebe zu ihr schon lange, bevor er ihr begegnete, existierte, so wie die Sehnsucht nach etwas Grenzenlosem, Absolutem. Torbens Widerwille gegen Symbole und Theorien hing vielleicht mit dieser Sehnsucht zusammen. Der Glaube an Kraft und Ernst der Worte, an Fiktion und Wirklichkeit als zwei Seiten der gleichen Realität, das Wissen um das Wesen des Lebens und seinen Sinn, all das, was die Druiden gelehrt und wofür sie gelebt hatten, war bei Torben schon immer vorhanden gewesen.

Ihm und Mary darf nichts zustoßen. Darum habe ich diesen Bericht geschrieben.

Ich habe ihn nicht geschrieben, um den Kampf der Kelten, ein freies Volk zu werden, aufzudecken und zu behindern. Im Gegenteil. Ich wünschte mir, daß die keltischen Völker keltisch sein dürften und dann vielleicht auch unabhängig. Jedes Volk, das frei sein will, muß das Recht haben, es zu sein. MacDuff hat mich verstehen gelehrt, daß es ein Völkerrecht gibt, das mit der Identität des Menschen zusammenhängt, ein von politischen Systemen unabhängiges Recht, das im geheiligten Namen des Nationalismus stets unterdrückt wurde. Wenn man einem Menschen den Namen nimmt, sagen die Kelten, ist es, als töte man ihn. Ebendies hat England in Wales, in Schottland und Irland getan und Frankreich in der Bretagne.

Nein, ich habe diesen Bericht nicht geschrieben, um den Kelten das Recht auf ihren Namen streitig zu machen. Ich habe ihn geschrieben, damit Mary, Torben und ich den Rest unseres Lebens nicht in Furcht verbringen müssen. Denn je mehr Menschen die Dinge kennen, die nach der Meinung gewisser Leute geheim bleiben sollten, desto geringer ist das Risiko für uns. Ich weiß sehr wohl, daß es Schriftsteller gibt, die zum Tode verurteilt oder inhaftiert wurden, weil sie schrieben, was sie für die Wahrheit hielten. Aber ich kann nicht glauben, daß der Keltische Ring uns aus purer Rachgier bis ans Ende der Welt verfolgen wird. Die Wahrheit ist von den Kelten immer verehrt worden, und ihre weisen Männer haben das Wort stets über die Gewalt gestellt. Ich hoffe und glaube, daß sie in der Lage sein werden, ihre Freiheit zu erringen, ohne ein Geheimnis aus ihrem Kampf zu machen und ohne Blut zu vergießen, ohne Menschenleben zum Teil einer Gleichung zu machen.

Ich will noch sagen, daß ich diesen Bericht so wahrheitsgetreu und vollständig abgefaßt habe, wie mir dies möglich war, und ich versichere, daß ich nicht mehr weiß, als was auf diesen Blättern steht. Mich, Torben oder Mary aus dem Weg zu räumen würde also keinen Sinn mehr machen. Die Punkte, die in dem Text unklar geblieben sind, bleiben nach wie vor auch mir unklar. Ich muß mich bei meinen Lesern dafür entschuldigen, daß ich auf diese Weise die Bedrohung, die auf mir liegt, an sie weitergegeben habe. Aber einen anderen Weg habe ich nicht gefunden.

Björn Larsson: Der Keltische Ring




Bald gelangten sie zu einer in den Fels gehauenen Krypta. Ein eisernes Türgitter mit einem verwitterten Wappen versperrte den Zugang. Der SS-Offizier, der sich wie der Herr des Anwesens aufführte, zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Dann zündete er eine Laterne an, und alle betraten nacheinander die Krypta, außer Reiter, dem einer der Offiziere ein Zeichen machte, er solle an der Tür Wache halten.
Reiter blieb also draußen stehen, betrachtete die steinernen Stufen, die in die Dunkelheit hinabführten, dann den wüsten Garten, durch den sie gekommen waren, und die Türme des Schlosses, die von hier aussahen wie zwei graue Kerzen auf einem verwahrlosten Altar. Er zog eine Zigarette aus seiner Uniformjacke, zündete sie an und schaute in den grauen Himmel, auf die fernen Täler und dachte auch an das Gesicht der Baroness von Zumpe, während die Asche seiner Zigarette zu Boden rieselte und er, an den Fels gelehnt, nach und nach einnickte. Daraufhin träumte er vom Inneren der Krypta. Die Stufen führten in ein Amphitheater, das von der Laterne des SS-Offiziers nur teilweise erhellt wurde. Er träumte davon, dass die Besucher lachten. Alle, außer einem der Stabsoffiziere, der unaufhörlich weinend einen Platz suchte, um sich zu verstecken. Er träumte, dass Hoensch ein Gedicht von Wolfram von Eschenbach rezitierte und dann Blut spuckte. Er träumte, dass sich alle gemeinsam daranmachten, die Baroness von Zumpe zu verspeisen.

Er schreckte aus dem Schlaf und wäre fast in die Krypta hinuntergerannt, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass alles wirklich nur geträumt war.
Als die Gäste wieder an die Oberfläche kamen, hätte jeder, auch der begriffsstutzigste Beobachter, sehen können, dass sie in zwei Gruppen zerfielen; die einen tauchten blass um die Nase wieder auf, als hätten sie dort unten etwas Ungeheuerliches gesehen, die anderen mit einem Lächeln um die Lippen, als hätten sie gerade wieder etwas Neues über die Einfältigkeit der Menschen gelernt.
Am Abend, während des Essens, sprachen sie über die Krypta, aber auch über andere Dinge. Sie sprachen über den Tod. Hoensch sagte, der Tod an sich sei nur eine ständig entstehende Illusion ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. Der SS-Offizier sagte, der Tod sei eine Notwendigkeit: Niemand, der noch bei Verstand sei, würde eine Welt voller Schildkröten oder Giraffen akzeptieren. Der Tod, schloss er, sei das Regulativ. Der junge Gelehrte Popescu sagte, die östliche Weisheit sehe im Tod nur einen Übergang. Unklar sei jedoch, sagte er, zumindest sei ihm unklar geblieben, an welchen Ort, in welche Wirklichkeit dieser Übergang führe.

»Die Frage ist nur, wohin«, sagte er. »Die Antwort ist«, antwortete er sich selbst, »dorthin, wohin meine Verdienste mich fuhren.«
General Entrescu meinte, darauf komme es nicht an, entscheidend sei, nicht stehen zu bleiben, sei die Dynamik der Bewegung, das, was die Menschen mit allem, was lebe, einschließlich der Küchenschaben, einschließlich der großen Sterne, auf eine Stufe stelle. Baroness von Zumpe sagte, und war vermutlich die Einzige, die sich freimütig äußerte, der Tod sei etwas Lästiges. General von Berenberg zog es vor, keine Meinung zu äußern, ebenso die beiden Stabsoffiziere.
Anschließend sprachen sie über den Mord. Der SS-Offizier sagte, das Wort Mord sei ein zweischneidiges, zweideutiges, ungenaues, vages, unbestimmtes Wort und eigne sich bestens für Kalauer. Hoensch pflichtete ihm bei. General von Berenberg sagte, er überlasse die Gesetze lieber den Richtern und den Gerichtshöfen, und wenn ein Richter sage, eine Tat sei Mord, dann sei es Mord, und wenn ein Richter und ein Gericht urteilten, dass es kein Mord sei, dann sei es eben keiner, basta. Die beiden Stabsoffiziere waren derselben Meinung wie ihr Chef.
General Entrescu gestand, die Helden seiner Kindheit seien allesamt Mörder und Verbrecher gewesen und er habe großen Respekt vor ihnen gehabt. Der junge Gelehrte Popescu erinnerte daran, dass Mörder und Helden sich in ihrer Einsamkeit und ihrem zumindest anfänglichen Unverstandensein ähnelten.

Roberto Bolaño: 2666



Rätselhaft, unvollendet, riesig.
Erstes Rätsel der Titel. Vielfältig gedeutet. Eigentlich 666, an die Zahl der Apokalypse in der Offenbarung des Johannes erinnernd, versehentlich hat der Autor statt der Anführungsstriche eine 2 geschrieben.
Oder: kein Friedhof von 1974 noch einer von 1968 oder 1975, sondern ein Friedhof im Jahre 2666, vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das, weil es etwas vergessen möchte, am Ende alles vergessen hat.
Oder: Reflexion der eigenen Biografie.
Als junger Mann erlebt er 1973 die kurze Hoffnung auf Demokratie mit Allende. Pinochets Schergen beenden sie schnell, Bolaño wird verhaftet. Wachbeamte, ehemalige Mitschüler, erkennen ihn, sorgen für seine Entlassung nach Mexiko. Er flieht weiter nach Spanien, versucht sich dort im Drogenrausch der Poesie zu widmen, steckt sich mit Hepatitis C an, schreibt 2666 im Wettlauf mit der Zeit. Wenige Tage vor seinem Tod sagt er, dass er die vorliegende Fassung noch überarbeiten müsse, wenn er die Lebertransplantation überstanden hat.

Bolaños Erben beschließen gegen seinen letzten Willen, die fünf Einzelteile als Gesamtwerk zu editieren. Es beginnt mit dem "Teil der Kritiker", der Geschichte von vier Philologen, die sich intensiv mit dem Werk des zwar verschollenen, aber wichtigsten deutschen Nachkriegsautoren Benno von Archimboldi auseinandersetzen. Die Suche nach Archimboldi kulminiert in einer Reise nach Mexiko, Archimboldi soll dort gesehen worden sein.

Der zweite Teil widmet sich dem fünfzigjährigen chilenischen Professor Amalfitano, im ersten Teil Begleiter und Touristenführer der drei Archimboldianer in Santa Teresa, eine gescheiterte Existenz, von seiner Frau verlassen und allein gelassen mit Tochter Rosa. Der Teil ist die sprachliche Brücke zu Dantes Inferno, in das Bolaños Erzählung in den Folgekapiteln verlagert wird.

Den dritten Teil beherrscht Oscar Fate, Journalist, der aus Santa Teresa über einen Boxkampf berichtet, aber sich mehr für die Frauenmorde interessiert. Er lernt Rosa aus dem zweiten Teil kennen. Der Abgrund Mexikos öffnet hier erstmals seinen Schlund – der Leser tappt in die Falle.

Im "Teil der Verbrechen" beschreibt Bolaño auf 350 Seiten in kriminologischer Akribie mehr als 100 Morde an Frauen in Santa Teresa und setzt den unzähligen getöteten Frauen ein letztes Denkmal, reißt den Leser in einen Strudel der Grausamkeit und Gewalt, der Menschenverachtung und Unmoral. Wahrer Hintergrund sind die Ereignisse bei der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez, wo 1992 in der angrenzenden Wüste Sonora eine bis heute unaufgeklärte Mordserie beginnt, wo Hunderte Frauen dort auf grausame Weise vergewaltigt und massakriert werden. In Mexiko Kriminologe zu sein, das ist, als wäre man ein kleiner Junge in einem Schlafsaal mit lauter Päderasten.
Der Deutsche Klaus Haas wird zum willkommenen Bauernopfer der mexikanischen Polizei, er nimmt eine dubiose Rolle ein, inszeniert sich noch aus dem Gefängnis heraus als Unschuldslamm und behält dennoch immer etwas anrüchig Verdächtiges. Vor den Toren des Gefängnisses in Santa Teresa geht das Morden weiter.

Der letzte "Teil von Archimboldi" widmet sich zunächst Hans Reiter alias Archimboldi, als Wehrmachtssoldat während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa im Einsatz, Zeuge und Täter unzähliger Verbrechen der Wehrmacht. Was er nicht selbst erlebt oder vollzieht, liest er in den autobiografischen Dokumenten eines gewissen Ansky, der in der russischen Armee seinen Dienst geleistet hat: In den gegenwärtigen Grausamkeiten der mexikanischen Wirklichkeit wird die Abscheulichkeit der europäischen Geschichte gespiegelt.


Der Erzähler ist nicht einfach nur auktorialer Draufblicker und Berichterstatter, sondern Kameramann, der dem Leser die Bilder liefert, die er zum Verständnis braucht. Diese Sprachbilder sind von seltener Ausdruckskraft und Konkretheit. Der Chilene lässt uns das Erzählte greifbar vor die Augen treten.
Sein Roman ist mit selten zu lesenden Metaphernketten gefüllt, die nicht einfach nur die Textmenge vergrößern, sondern eine dramaturgische Wirkung haben. Ein ähnliches Mittel, dass er immer wieder einsetzt, sind Teilsatzketten, die dem Leser die größtmögliche Aufmerksamkeit abverlangen. Bereits am Anfang des Romans zieht sich ein Satz über mehr als fünf Seiten, der den Leser kaum zum atmen kommen lässt, der Satz reißt ihn fort auf eine Rückwärtsreise durch Zeit und Raum, angefangen im Amsterdam des Jahres 1995, endend im Buenos Aires der 1920er Jahre.

Bolaños schier endlose Aneinanderreihungen von Teil- und Halbsätzen führen immer tiefer hinab in die verschiedenen Ebenen des Romans, sie entlassen den Leser nicht mehr, sondern verstricken sie ihn in das Geschehen, lassen ihn physisch am Erzählten teilhaben. Roberto Bolaño ist nicht nur ein Erzähler ersten Ranges, sondern schreibender Menschenfänger, der seinen Lesern nahezu unbemerkt mit den allerschönsten Mitteln der Literatur sanft Handschellen anlegt und sie zum Teil seines Romans macht.
2666 der totale Roman und vielleicht erste große Saga der globalen Literatur.
Abschließende Warnung:
Wer 2666 liest, wird zum Bolañoaner, zum Anhänger des genialsten und faszinierendsten Erzählers der Gegenwart.









Es wiederholte sich alljährlich. Der Empfänger der Blume feierte seinen zweiundachtzigsten Geburtstag. Sowie die Blume bei ihm angekommen war, öffnete er das Paket und entfernte das Geschenkpapier. Danach griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer eines ehemaligen Kriminalkommissars, der sich nach seiner Pensionierung am Siljan-See niedergelassen hatte. Die beiden Männer waren nicht nur gleich alt, sie waren sogar am selben Tag geboren, was in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Der Kommissar wusste, dass der Anruf um elf Uhr morgens nach der Postzustellung eingehen würde, und trank Kaffee, während er wartete. Dieses Jahr klingelte das Telefon bereits um halb elf. Er nahm den Hörer ab und sagte hallo, ohne sich mit Namen zu melden. "Sie ist angekommen."

"Was für eine ist es dieses Jahr?"
"Keine Ahnung, was das für eine Blume ist. Ich werde sie bestimmen lassen. Weiß ist sie."
"Kein Brief, nehme ich mal an?"
"Nein. Nur die Blume, sonst nichts. Der Rahmen ist derselbe wie letztes Jahr. So ein Billigrahmen zum Selberzusammenbauen."
"Poststempel?"
"Stockholm."
"Handschrift?"
"Wie immer, alles in Großbuchstaben. Gerade, ordentliche Buchstaben."

Damit war das Thema erschöpft, und ein paar Minuten saßen die beiden schweigend am jeweiligen Ende der Leitung. Der pensionierte Kommissar lehnte sich am Küchentisch zurück und zog an seiner Pfeife. Er wusste jedoch, dass von ihm keine erlösende oder bestechend intelligente Frage mehr erwartet wurde, die ein neues Licht auf diese Angelegenheit hätte werfen können. Diese Zeiten waren seit vielen Jahren vorbei, und das Gespräch der beiden alternden Männer hatte beinahe schon den Charakter eines Rituals - eines Rituals um ein Mysterium, dessen Lösung keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt interessierte.
Diese Blume war nur eines der vielen rätselhaften Exemplare, die jedes Jahr am 1. November in einem gefütterten Umschlag eintrafen. Jedes Jahr war es eine andere Art, aber es waren stets schöne und meistens relativ seltene Blumen. Wie immer war die Blume gepresst, sorgfältig auf Aquarellpapier gelegt und hinter Glas in einem einfachen Rahmen mit dem Format 29 x 16 Zentimeter befestigt worden.

Für den Kommissar steckte der Fall mit den gepressten Blumen in seinem Berufsleben wie ein kleiner Stachel, den er einfach nie hatte entfernen können - ein frustrierender Fall, dessen Lösung immer noch ausstand, obwohl er ihm, verglichen mit anderen Fällen, doch am meisten Zeit gewidmet hatte.
Die Situation war umso komplizierter, da er nach buchstäblich tausenden von durchgrübelten Stunden während und außerhalb seiner Dienstzeiten nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb der zweiundachtzigjährige Jubilar eine Weile ganz still sitzen und betrachtete die schöne, aber bedeutungslose Blume, von der er noch nicht einmal den Namen kannte. Dann hob er den Blick zur Wand über seinem Schreibtisch. Dort hingen dreiundvierzig gepresste Blumen hinter Glas in ihren Rahmen; vier Reihen mit jeweils zehn Blumen und eine noch nicht abgeschlossene Reihe mit fünf. In der obersten Reihe fehlte eine. Platz Nummer zehn war ebenfalls leer. Desert Snow würde die Nummer vierundvierzig werden. Zum ersten Mal geschah aber etwas, was das Muster der früheren Jahre durchbrach. Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung begann er zu weinen. Er wunderte sich selbst über diesen jähen Gefühlsausbruch nach fast vierzig Jahren.

Stieg Larsson: Die Verblendung

Wer ermordete Olof Palme?















Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich böse rief sie:
»Was soll denn das?« und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mit großen Schritten auf ihn zu, rief:
»Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?« stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derart in die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit den Füßen den Zimmerboden berührt.
»Jetzt wäre ich bald hinausgefallen«, sagte er vorwurfsvoll.
»Schade, daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße Sie noch einmal hinunter.«

Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der, zuerst verblüfft, sich schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte sie.
»Ach, Sie tun mir weh«, sagte sie gleich.
Aber nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen.
»Lassen Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen, sie zu sehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.«
›Warum seufzt sie so‹, dachte Karl, ›es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht‹, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihm entwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich, mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend, gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen:

»Jetzt rühr dich, wenn du kannst.«
»Katze, tolle Katze«, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand.
»Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!«
»Gib acht auf deine Worte«, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun als Luft zu schnappen, während sie mit der anderen Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen konnte.

Franz Kafka: Amerika












Mein erster Weg am Tag nach meiner Ankunft in Piana führte mich aus dem Ort hinaus auf der in haarsträubenden Kurven, Kehren und Serpentinen bald schon steil abfallenden Straße, die über beinahe lotrechte, von grünem Buschwald dicht überwachsene Felsabbrüche hinabgeht bis auf den Grund einer mehrere hundert Meter tiefen, in die Bucht von Ficajola sich öffnenden Schlucht. Dort drunten, wo bis in die Nachkriegszeit eine vielleicht zwölf Köpfe zählende Gemeinde von Fischern in wüst zusammengemauerten, mit Wellblech gedeckten, heute teilweise mit Brettern vernagelten Behausungen lebte, habe ich den halben Nachmittag verbracht und bin lang, ohne mich zu rühren, bei dem kleinen Bach gelegen, dessen quecksilbriges Wasser selbst jetzt, am Ende des Sommers, ohne Unterlaß und mit jenem sprichwörtlichen, aus irgendeiner Vorzeit mir vertrauten Gemurmel über die letzten Granitstufen der Talsohle herablief, um lautlos auf dem Strand seinen Geist aufzugeben und zu versickern.

Ich habe den Uferschwalben zugeschaut, die in erstaunlich großer Zahl hoch droben um die feuerfarbenen Klippen kreisten, von der lichten Seite hineinsegelten in den Schatten und aus dem Schatten hervorschossen ins Licht, und einmal an diesem für mich von einem Gefühl der Befreiung erfüllten, in eine jede Richtung grenzenlos mir erscheinenden Nachmittag, bin ich auch hinausgeschwommen auf das Meer, mit einer ungeheuren Leichtigkeit, sehr weit hinaus, ja so weit, daß ich dachte, ich könnte mich nun einfach forttreiben lassen, bis in den Abend hinein und bis in die Nacht. Sowie ich aber dann, jenem seltsamen Instinkt gehorchend, der einen ans Leben bindet, doch umdrehte und wieder zuhielt auf das aus der Entfernung einem fremden Kontinent gleichende Land, da machte das Schwimmen mir Zug um Zug größere Mühe, und zwar nicht, als arbeitete ich gegen die Strömung, die mich bisher getragen hatte; nein, ich glaubte vielmehr, es ginge, wenn man das bei einer Wasserfläche so sagen kann, stetig weiter bergauf. Der Prospekt, den ich vor Augen hatte, schien aus seinem Rahmen gekippt, neigte sich mir, in sich selber schwankend und wabernd, mit dem oberen Rand um einige Grade entgegen und rückte am unteren Rand im gleichen Maß von mir fort. Dabei war es mir manchmal, als handle es sich bei dem, was so bedrohlich vor mir aufragte, nicht um einen Ausschnitt aus der wirklichen Welt, sondern um ein nach außen gekehrtes, von schwarzblauen Flecken unterlaufenes Abbild einer unüberwindlich gewordenen inneren Schwäche.




Schwerer noch als das Erreichen des Ufers war später der Aufstieg über die Serpentinenstraße und die kaum begangenen Pfade, die hier und da in direkter Linie eine Schleife mit der nächsten verbinden. Gut eineinhalb Stunden brauchte ich, bis ich wieder droben auf der Höhe von Piana war und gleich einem, der die Kunst der Levitation beherrscht, sozusagen schwerelos dahingehen konnte zwischen den äußersten Häusern und Gärten und entlang der Mauer, hinter der das Stück Land liegt, auf welchem die Bewohner des Orts ihre Toten begraben. werden, sei es zum Trost oder zur Trauer.





ein kleiner Soldat, das Schiffchen schief auf dem Kopf, der schwer verwundet nach Hause zurückgekehrt war von der zwecklosen Verteidigung der Dschungelfestung von Dien Bien Puh. Regrets eternels - wie fast alle Formeln, in denen wir unser Mitgefühl mit den vor uns Dahingegangenen zum Ausdruck bringen, ist auch dieses nicht ohne Zweideutigkeit, denn nicht nur beschränkt sich die Kundgebung der ewig währenden Untröstlichkeit der Hinterbliebenen auf das absolute Minimum, sondern sie wirkt, wenn man es richtig bedenkt, fast wie ein den Toten nachgesandtes Schuldbekenntnis, wie eine halbherzige Bitte um Nachsicht an diejenigen, die man vor der Zeit unter die Erde gebracht hat.

W. G. Sebald: Campo Santo



Sebalds eigentliches Genie, die rätselhafte Leichtigkeit, mit der er die Übergänge von der Wirklichkeit ins Phantastische, Metaphysische, Mirakulöse erzählerisch bewerkstelligt und organisiert, tritt im aufgegebenen Korsika-Projekt noch einmal zutage.
Ansonsten reche ich allerhand Zeug zusammen zur Natur- und Menschenkunde der Insel Korsika. Was daraus werden soll (oder nicht), weiß der lb. Gott. So schreibt Sebald am 17. Mai 1996 an seinen Freund, den Übersetzer, Musikwissenschaftler und Erzähler Wolfgang Schlueter. Ein halbes Jahr später meldet er den Abbruch dieser Arbeit: Habe ich Dir schon gesagt, daß ich das Korsika-Projekt, nach viel nutzlos aufgewendeter Mühe, in eine Schachtel gestopft habe. Je mehr ich daran herumbastelte, desto minder kam es mir vor. Jetzt muß ich etwas neues anfangen & hoffe, daß es mir nicht nochmal so geht.
Während der Ich-Erzähler und Insel-Wanderer auf Korsika unter den verwilderten Gräbern umhergeht, beginnt er über die Macht der an Zahl und Stärke Jahr für Jahr zunehmenden Schwadronen der Toten zu meditieren, die ihm immer häufiger, auf dem Graben in Wien, in der Londoner U-Bahn, als Gespenster begegnen, auf ihren Gesichtern den Ausdruck eines uns gramen Geschlechts.
Der Text nimmt eine horrende Schlusswendung: Er mündet in eine apokalyptische Vision des Untergangs. Geweissagt wird die Entropie der Gattung, der Erstickungstod des menschlichen Gedächtnisses, das Zerrinnen aller Vergangenheit in stumme Gestaltlosigkeit unter dem Ansturm milliardenfach bevorstehenden Todes. Nie wird dem Weltpessimismus entsetzlicherer Ausdruck gegeben als in diesem Text, diesem Bild von der Auslöschung der Humanitas.



Der Keltische Ring
Werkstudien
Jessie Ferguson zur Ählichkeit von Sebald und Bolaño
Archivo Bolaño 1977-2003



Zitat aus der ZEIT:
Einsamkeit ist das große Thema des Romans. 2666 wirkt wie ein Satellit, der seinem Autopiloten überlassen ist, ein kosmisch-verlorenes Auge, das durch die Sphären des Universums gleitet, mal den einen Planeten in den Fokus nimmt, mal den anderen – aber die Verknüpfung dessen, was in den Blick gerät, zeugt von keiner menschlichen Ordnung mehr. Kein im klassischen Sinne motivierender Plot verbindet die Informationsmassen, die einen trotzdem, auch wenn sie oft wie unerklärliche Abschweifungen erscheinen, jedes Mal in ihren Bann ziehen.

Bei dieser Raumfahrt durch die Verlassenheiten gibt es Leitmotive: Gewalt, Sexualität, Wahnsinn und Künstlertum. Bolaño erzählt vom Funken der Bösartigkeit, der im Menschen lauert: »Ich sage es ihnen im Vertrauen: Von allen Lebewesen ist, grosso modo, der Mensch der Ratte am ähnlichsten.« Und er erzählt von der Sexualität als der universellen Form, sich ein Stück Welt anzueignen. Bolaño hat in vielen seiner Bücher den erfolglosen Schriftsteller als anthropologischen Archetypus geradezu erfunden, der eine Spur im öden Universum hinterlassen will, aber in Wahrheit nur ein Epigone ist, der ob seiner Mittelmäßigkeit verzweifelt. Die Welt ist Wille, Wahn und Vorstellung.

»Ein kräftiger Wind aus Westen rannte gegen die Flanken der Berge im Osten an, fegte auf seinem Weg durch Santa Teresa Staub, Zeitungsseiten und herumliegende Kartons vor sich her und brachte Bewegung in die Wäsche, die Rosa im Hintergarten aufgehängt hatte, als würde er, der so junge, so energische und kurzlebige Wind, Amalfitanos Hemden und Hosen anprobieren und in die Unterwäsche seiner Tochter schlüpfen und einige Seiten im Geometrischen Vermächtnis lesen, als wollte er sehen, ob dort nicht etwas stünde, das ihm von Nutzen sein, das ihm die Landschaft der Straßen und Häuser, durch die er galoppierte, erklären oder ihm Aufschluss über sich selbst als Wind geben konnte.« Das ist der hermeneutisch innigste Moment dieses Romans: Der Wüstenwind, der die Wäsche fremder Menschen liest.

Eigentlich dachten wir, die Avantgarde sei tot und ihre Innovationsanstrengungen an ein Ende gekommen, weil alle Neuerungsmöglichkeiten ausgereizt seien. Das war ein naiver und sträflicher Irrtum. Mit Roberto Bolaños Roman 2666 ist etwas wirklich Neues in die Welt gekommen: ein Meilenstein der literarischen Evolution.



Ein letzter Satz, eine letzte Frage:
Und als der blässliche Schriftsteller, ein Schwabe, in seinem Kolloquiumsbeitrag von seinem Werdegang als Journalist, als Feuilletonseitenfüller und Interviewer aller irgendwie schöpferisch tätigen und Interviews hassenden Menschen erzählte und zuletzt auf die Zeit zu sprechen kam, da er in abgelegenen oder, im Klartext, hinterwäldlerischen, aber kulturbeflissenen Gemeinden als Kulturbeauftragter arbeitete, fiel plötzlich der Name Archimboldi, an den er vermutlich durch die vorangegangene, von Espinoza und Pelletier geleitete Gesprächsrunde erinnert wurde und den er kennengelernt hatte, als er in einem friesischen Städtchen nördlich von Wilhelmshaven mit Blick auf Nordsee und Ostfriesische Inseln den Posten des Kulturbeauftragten bekleidete, in einer Gegend, wo man immer mit der Kälte zu kämpfen batte, mit eisiger Kälte, aber noch mehr mit der Feuchtigkeit, einer salzigen Feuchtigkeit, die einem in die Knochen kroch, und wo es nur zwei Arten gab, den Winter zu überstehen, entweder man trank bis zur Leberzirrhose oder besuchte im Gemeindesaal des Rathauses Musikaufführungen (meist von Amateurstreichquartetten) oder Lesungen von auswärtigen Schriftstellern, die ein winziges Honorar, ein Zimmer in der einzigen Pension am Ort und ein paar Mark für die Hin- und Rückreise im Zug bekamen - in einem dieser Züge, die mit den deutschen Zügen von heute nichts mehr gemein haben, in denen die Leute aber möglicherweise gesprächiger waren, wohlerzogener, aufmerksamer gegenüber Mitreisenden -, so dass der Schriftsteller also nach Abzug sämtlicher Reisekosten nach Hause kam (was oft nicht mehr als ein Hotelzimmer in Frankfurt oder Köln war) und noch etwas Geld zurückbehielt, vielleicht auch dank des einen oder anderen verkauften Buchs im Falle der Schriftsteller oder Dichter, vor allem der Dichter, die, nachdem sie einige Seiten gelesen und die Fragen der Ortsbewohner beantwortet hatten, ihren Bauchladen aufschlugen, wie man so sagt, und sich ein paar Mark extra verdienten, was damals eine beliebte Praxis war, denn wenn den Leuten gefiel, was der Schriftsteller las, wenn es seiner Lesung gelang, sie aufzuwühlen oder zu unterhalten oder nachdenklich zu stimmen, nun, dann kauften sie ihm auch ein Buch ab, manchmal nur als Andenken an einen schönen Abend, an dem der Wind durch die Straßen der Ortschaft pfiff und die Kälte ins Fleisch schnitt, manchmal um ein bestimmtes Gedicht oder eine bestimmte Erzählung zu lesen oder noch einmal zu lesen, dann aber zu Hause, Wochen nach der Veranstaltung, oft beim Licht einer Petroleumlampe, weil es nicht immer Strom gab, wie man weiß, der Krieg war gerade erst vorbei, und die sozialen und wirtschaftlichen Wunden lagen offen, kurz, es lief mehr oder weniger so ab wie eine Lesung heute, mit der Einschränkung, dass die mitgebrachten Bücher von den Autoren im Selbstverlag veröffentlicht waren, während heute die Verlage die Bücherstände bestücken, und einer der Schriftsteller, die das friesische Örtchen besuchten, in dem unser Schwabe als Kulturbeauftragter arbeitete, war Benno von Archimboldi, ein Autor vom Format eines Gustav Heller oder Rainer Kuhl oder Wilhelm Frayn (Schriftsteller, die Morini später vergeblich in seinem Lexikon deutscher Autoren nachschlug), der keine Bücher zum Verkauf mitbrachte und zwei Kapitel aus einem Roman las, an dem er gerade schrieb, seinem zweiten, den ersten, erinnerte sich der Schwabe, hatte er noch im selben Jahr in Hamburg veröffentlicht, obwohl er nicht aus diesem Roman las, den es aber tatsächlich gab, sagte der Schwabe, und Archimboldi, als hätte er diesbezügliches Misstrauen vorausgesehen, hatte ein Exemplar mitgebracht: Ein Romänchen, rund hundert Seiten stark, vielleicht auch etwas mehr, hundertzwanzig Seiten, hundertfimfundzwanzig, das er in einer Jackentasche bei sich trug, und seltsamerweise erinnerte sich der Schwabe genauer an Archimboldis Jacke als an das Romänchen, das in einer Tasche dieser Jacke steckte, ein Romänchen mit schmutzigem, verknittertem Umschlag, der einmal in einem satten Marmorton oder bleichen Weizenfeldgelb oder zarten Gold geglänzt haben musste, jetzt aber keinerlei Farbe oder Färbung mehr aufwies, nur Titel, Autorname und Verlagssignet, die Jacke dagegen war ihm unvergesslich, eine schwarze Lederjacke mit hohem Kragen, wirksamer Schutz gegen Schnee, Regen und Kälte und weit genug, um darunter einen dicken Pullover zu tragen oder auch zwei, ohne dass es auffiel, mit waagerechten Außentaschen und einer Knopfleiste, auf der vier wie mit Angelschnur angenähte Knöpfe saßen, nicht zu große und nicht zu kleine Knöpfe, eine Jacke, die irgendwie, keine Ahnung warum, an die Lederjacken erinnerte, die einst Gestapoleute trugen, obwohl in der damaligen Zeit schwarze Lederjacken in Mode waren, und jeder, der Geld hatte, sich eine zu kaufen, oder eine geerbt hatte, zog sie an, ohne sich mit dem Gedanken aufzuhalten, welche Erinnerungen die Jacke weckte, und dieser Schriftsteller, der damals in das friesische Städtchen kam, war Benno von Archimboldi, der junge, neunundzwanzig oder dreißig Jahre alte Benno von Archimboldi, und er, der Schwabe, hatte ihn vom Bahnhof abgeholt und in die Pension gebracht, wobei sie über das ewig schlechte Wetter sprachen, und anschließend brachte er ihn ins Gemeindehaus, wo Archimboldi, ohne einen Bauchladen aufzuschlagen, zwei Kapitel aus einem noch unvollendeten Roman las, und hinterher hatte man im Gasthaus des Städtchens zu Abend gegessen, der Autor und er zusammen mit der Dorflehrerin und einer Witwe, die Musik und bildende Kunst der Literatur vorzog, die aber, wenn sie weder Musik noch bildende Kunst bekommen konnte, einen Literaturabend durchaus nicht verachtete, und diese Frau nun bestritt den Löwenanteil der Unterhaltung während des Essens (Wurst und Kartoffeln und dazu Bier, mehr war in der damaligen Zeit und angesichts der finanziellen Mittel der Gemeinde nicht drin, erinnerte der Schwabe), obwohl Löwenanteil der Unterhaltung nicht ganz zutrifft, sie schwang bei der Unterhaltung den Taktstock, führte das Ruder, und die Männer, die um den Tisch herumsaßen, der Sekretär des Bürgermeisters, ein Mann, der gepökelten Fisch verkaufte, ein pensionierter Lehrer, der alle naselang einschlief, selbst wenn er gerade die Gabel zum Mund hob, und ein Stadtangestellter, ein sehr netter Bursche und guter Freund des Schwaben namens Fritz, nickten oder hüteten sich wenigstens, der furchtgebietenden Witwe zu widersprechen, die besser über Kunst Bescheid wusste als alle anderen, einschließlich des Schwaben, und die Italien und Frankreich kannte, die sogar 1927 oder 1928 auf einer ihrer Reisen, einer unvergesslichen Kreuzfahrt, Buenos Aires besucht hatte, als die Stadt noch ein Weltzentrum des Fleischhandels war und mächtige Kühlschiffe den Hafen verließen, ein eindrucksvolles Schauspiel, unzählige Schiffe, die leer eintrafen und schwer beladen mit Fleisch in aller Herren Länder aufbrachen, und wenn sie, die Frau, an Deck erschien, nachts zum Beispiel, verschlafen oder seekrank oder bekümmert, brauchte sie sich nur an die Reling zu lehnen und den Augen einen Moment Zeit zur Gewöhnung zu lassen, dann war der Anblick des Hafens wie ein Schock und der letzte Rest Schlaf oder Seekrankheit oder Kummer wie weggeblasen, das Fassungsvermögen des Nervensystems erlaubte nur die bedingungslose Hingabe an dieses Bild: Karawanen von Einwanderern, die wie Ameisen das Fleisch von Tausenden von Rindern in die Laderäume der Schiffe trugen, Paletten, auf denen das Fleisch Tausender geschlachteter Kälber geliefert wurde, und der milchige Dunst, der jeden Winkel des Hafens färbte, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sogar während der Nachtschichten, dann jedoch rot wie ein blutiges Steak oder Kotelett oder Filet oder kaum gewendete Rippchen auf dem Barbecue, grauenvoll, nur gut, dass sie, die damals noch nicht Witwe war, dieses Schauspiel nur in der ersten Nacht erleben musste, am Morgen gingen sie von Bord und bezogen eines der teuersten Hotels von Buenos Aires und besuchten die Oper und zuletzt ein Landgut, wo ihr Mann, ein erfahrener Reiter, die Herausforderung zu einem Pferderennen mit dem Sohn des Gutsbesitzers annahm, das dieser verlor, dann eins mit einem Gutsarbeiter, einem Vertrauten des Gutsbesitzersohns, einem Gaucho, der auch verlor, und dann eins mit dem Sohn des Gauchos, einem sechzehnjährigen Bürschchen, dünn wie Zuckerrohr und mit feurigen Augen, so feurig, dass, als die Dame sich ihm zuwendete, der Junge den Kopf senkte und sie so verschlagen von unten herauf ansah, dass sie beleidigt war, so ein Lümmel, während ihr Mann lachte und auf Deutsch zu ihr meinte: Da hast du aber jemandem den Kopf verdreht, ein Witz, den die Frau kein bisschen lustig fand, und dann bestieg der Kleine sein Pferd, und das Rennen begann, und wie gut der Junge galoppierte, wie leidenschaftlich er sich festkrallte, er klebte förmlich am Hals seines Pferdes und schwitzte und schwang die Peitsche, aber am Ende gewann doch der Ehemann, nicht umsonst war er Hauptmann in einem Kavallerieregiment gewesen, und der Gutsbesitzer und der Sohn des Gutsbesitzers erhoben sich von ihren Stühlen und applaudierten, gute Verlierer, und auch die übrigen Gäste applaudierten, guter Reiter, der Deutsche, ausgezeichneter Reiter, doch als der Junge das Ziel erreichte, das große Tor des Landguts, verriet sein Gesichtsausdruck keinen guten Verlierer, im Gegenteil, er wirkte eher mürrisch, verärgert und starrte zu Boden, und während die Männer, die sich auf Französisch unterhielten, auf der Suche nach einem Glas eiskalten Champagners durch das Tor zurückschlenderten, trat die Dame zu dem Jungen, der als Einziger noch herumstand und mit der linken Hand sein Pferd hielt - am anderen Ende des langen Hofes führte der Vater des Jungen das Pferd, das der Deutsche geritten hatte, in den Stall -, und sagte in einer ihm unverständlichen Sprache, er solle nicht traurig sein, er habe ein sehr gutes Rennen geliefert, aber ihr Mann sei auch sehr gut und viel erfahrener, Worte, die für den Jungen klangen wie der Mond, wie ziehende Wolken, die den Mond verhüllen, wie ein Donnerwetter im Schneckentempo, und da sah der Bursche sie von unten herauf mit einem Raubtierblick an, bereit, ihr auf Bauchnabelhöhe ein Messer einzutreiben, sie dann bis hoch zu den Brüsten aufzuschlitzen und in zwei Hälften zu teilen, während, wie die Frau sich erinnerte, ein seltsames Funkeln in seinen unerfahrenen Schlächterblick trat, was sie nicht davon abhielt, ihm widerspruchslos zu folgen, als der Junge sie bei der Hand nahm und auf die Rückseite des Hauses führte, wo eine schmiedeeiserne Pergola und Blumen in Beeten und Bäume standen, wie die Frau sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, oder von denen sie vielleicht auch nur glaubte, sie noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben, und auch einen Brunnen sah sie in dem Park, einen steinernen Brunnen, in dessen Mitte auf einem Bein und mit heiterer Miene ein kreolischer Cherub tanzte, halb Europäer, halb Kannibale, und ständig übergossen von drei zu seinen Füßen entspringenden Fontänen, gemeißelt aus einem einzigen Block schwarzen Marmors, vor dem die Frau und der Junge lange bewundernd standen, bis eine entfernte Cousine des Gutsbesitzers kam (oder eine Konkubine, die der Gutsbesitzer in einer der vielen Falten seines Gedächtnisses verkramt hatte), die ihr in einem resoluten, unterkühlten Englisch mitteilte, dass ihr Mann sie seit geraumer Zeit suche, und da raffte sich die Frau auf, den verzauberten Park am Arm der entfernten Cousine zu verlassen, woraufhin der Junge ihr etwas zurief, zumindest glaubte sie das, und als sie sich umdrehte, zischte er ihr ein paar Worte zu, und die Frau strich ihm über den Kopf, und während ihre Finger sich im struppigen Dickicht seiner Haare verloren, fragte sie die Cousine, was der Junge gesagt habe, und die Cousine schien einen Moment zu zögern, aber die Frau, die keine Lügen oder Halbwahrheiten duldete, verlangte eine sofortige und wahrheitsgetreue Übersetzung, und die Cousine stotterte: Der Junge hat gesagt... er hat gesagt ... dass der Patron ... dafür gesorgt habe, dass Ihr Mann die letzten beiden Rennen gewinnt, und danach schwieg die Cousine und der Junge ging, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend, in entgegengesetzter Richtung durch den Park davon, und die Frau mischte sich wieder unter die Festgäste, musste aber ständig an das denken, was ihr der Junge im letzten Moment verraten hatte, gütiger Himmel, und je länger sie über die Worte des Jungen nachdachte, desto rätselhafter erschienen sie ihr, und das Rätsel ließ sie während des ganzen Festes nicht los, es quälte sie, als sie sich später schlaflos im Bett herumwälzte, machte sie am nächsten Tag während eines Spazierritts und eines Grillfestes ganz wirr im Kopf, es begleitete sie auf ihrer Rückkehr nach Buenos Aires und in den Tagen, an denen sie im Hotel blieb oder Empfänge in der deutschen oder englischen oder ecuadorianischen Botschaft besuchte, und es löste sich erst während der Rückkehr nach Europa, nach mehreren Tagen an Bord, nachts oder vielmehr um vier Uhr morgens, als die Frau einen Spaziergang an Deck unternahm, ohne zu wissen und ohne wissen zu wollen, auf welchem Längen- oder Breitengrad sie sich befanden, umgeben oder zur Hälfte umgeben von 106 200 000 Quadratkilometern Salzwasser, just in dem Moment, als die Frau vom Oberdeck der Erste-Klasse-Passagiere sich eine Zigarette anzündete, den Blick auf die Weite des Meeres gerichtet, das sie nicht sehen, nur hören konnte, fand das Rätsel seine wundersame Lösung, und genau da, an diesem Punkt der Geschichte, sagte der Schwabe, verstummte die einstmals reiche und mächtige und zumindest auf ihre Art intelligente friesische Frau, und eine religiöse oder, schlimmer noch, abergläubische Stille senkte sich über das triste deutsche Nachkriegslokal, in dem es den Teilnehmern der Tischgesellschaft immer unbehaglicher zumute wurde und sie hastig ihre restlichen Würstchen und Kartoffeln zusammenpickten und die letzten Tropfen Bier aus ihren Gläsern schlürften, als fürchteten sie, die Frau könne im nächsten Moment wie eine Erinnye zu heulen anfangen, und glaubten sich gut beraten, darauf gefasst zu sein, hinaus und mit vollem Bauch der Kälte trotzend nach Hause zu laufen.
Und dann sprach die Frau und sagte:
»Ist einer hier, der das Rätsel lösen kann?«

Roberto Bolaño: 2666



Im November 1987, nachdem ich die ausgehenden Sommermonate mit meinen verschiedenen Arbeiten beschäftigt in Verona, die Oktoberwochen aber, weil ich den Winter nicht mehr erwarten konnte, in einem weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation gelegenen Hotel verbracht hatte, faßte ich eines Nachmittags, als der Großvenediger auf eine besonders geheimnisvolle Weise aus einer grauen Schneewolke auftauchte, den Entschluß, nach England zurückzukehren, zuvor aber noch auf eine gewisse Zeit nach W. zu fahren, wo ich seit meiner Kindheit nicht mehr gewesen war. Weil von Innsbruck aus nur ein einziger Bus, und zwar, soviel ich in Erfahrung zu bringen vermochte, um sieben Uhr morgens in Richtung Schattwald geht, hatte ich keine andere Wahl, als den für mich mit unguten Erinnerungen verbundenen Nachtexpreß über den Brenner zu nehmen, der so gegen halb fünf in Innsbruck eintrifft.

Eine dunkle, ins Schwarzfarbene übergehende Wolkendecke lag über dem ganzen Tannheimer Tal, das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte. Nirgends rührte sich das geringste. Nicht einmal ein einziges Automobil war zu sehen auf der weit hinten in der Tiefe des Tals sich verlierenden Strecke. Auf der einen Seite stiegen die Berge in den Nebel hinein, auf der anderen dehnte sich eine nasse Moorwiese, und dahinter erhob sich aus dem Vilsgrund herauf der kegelförmige, aus nichts als aus schwarzblauen Fichten bestehende Pfrontner Wald. Der diensthabende Zöllner, der, wie er mir sagte, in Maria Rain zu Hause war, versprach mir, meine Tasche nach Feierabend, wenn er auf der Heimfahrt durch W. komme, für mich im Engelwirt abzuladen. Ich konnte also, nachdem ich ein paar weitere Worte mit ihm über die elende Jahreszeit gewechselt hatte, bloß mit dem kleinen ledernen Rucksack über der Schulter durch die ans Niemandsland grenzenden Moorwiesen und den Alpsteigtobel hinab nach Krummenbach und von dort über das Unterjoch, die Pfeiffermühle und das Enge Platt nach W. hinausgehen. Der Tobel war erfüllt von einer Dunkelheit, wie ich sie mitten am Tag nicht für möglich gehalten hätte. Nur zu meiner Linken, über dem vom Weg aus nicht sichtbaren Bachlauf, schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige

Fichten standen die Abhänge hinauf. Selbst diejenigen, die zuunterst aus dem Tobelgrund emporwuchsen, hatten erst weit überhalb des Niveaus, auf welchem der Weg fortlief, schwarzgrüne Wipfel. Immer wieder, wenn die Luft dort droben etwas in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei, nichts. In zunehmendem Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust, und es war mir auch, als ob es, je weiter ich hinunterkam, desto kälter und finsterer werde. An einem der wenigen halbwegs offenen Plätze, wo man von einer Art Kanzel sowohl auf einen Wasserfall und Gumpen hinab- als auch hoch in den Himmel hinaufschauen konnte, ohne daß sich hätte sagen lassen, welche Blickrichtung die unheimlichere war, sah ich durch die, wie es schien, endlos hinaufragenden Bäume, daß in der bleigrauen Höhe ein Schneegestöber ausgebrochen war, von dem jedoch nichts bis in den Tobel hereindrang. Als nach einer weiteren halben Wegstunde das Tobel zu Ende ging und der Wiesengrund von Krummenbach sich auftat, blieb ich lang unter den letzten Bäumen stehen und schaute mir, aus dem Dunkel heraus, das wunderbare weißgraue Schneien an, von dessen Lautlosigkeit die wenige fahle Farbe in den nassen, verlassenen Feldern vollends ausgelöscht wurde.

W. G. Sebald: Schwindel.Gefühle

Acht Monate nach ihrem ersten Aufenthalt in Kempten kehrten Ingeborg und Archimboldi zurück, aber diesmal kam ihnen der Ort nicht mehr so schön vor wie damals, weshalb sie ihn nach zwei Tagen, beide in sehr nervöser Verfassung, auf einem Karren verließen, der sie in ein Dorf in den Bergen brachte.
Das Dorf hatte weniger als zwanzig Einwohner und lag nah an der österreichischen Grenze. Sie mieteten sich dort ein Zimmer bei einem Bauern, der eine Milchwirtschaft besaß und allein lebte, weil er im Krieg seine beiden Söhne verloren hatte, den einen in Russland, den anderen in Ungarn, und seine Frau gestorben war, vor Kummer, wie er sagte, obwohl im Dorf behauptet wurde, der Bauer habe sie in eine Schlucht gestoßen.
Der Bauer hieß Fritz Leube und schien gern Gäste zu haben, obwohl er, als er das erste Mal Ingeborg Blut husten sah, stark beunruhigt war, weil er dachte, Tuberkulose sei eine leicht ansteckende Krankheit. Jedenfalls sahen sie sich nicht allzu oft.

Um zu Kräften zu kommen, aßen sie Schwarzbrot mit Butter und tranken große Becher warmer Milch. Eines Nachts, nachdem Ingeborg lange gehustet hatte, fragte sie den Bauern, woran seine Frau gestorben sei. Am Kummer, erwiderte Leube wie immer.
»Seltsam«, sagte Ingeborg, »im Dorf erzählt man sich. Sie hätten sie umgebracht.«
Leube wirkte nicht überrascht, denn er wusste um die Gerüchte.
»Wenn ich sie umgebracht hätte, säße ich jetzt nicht hier«, sagte er.
»Glaube ich nicht«, sagte Ingeborg, »es gibt viele Leute, die jemanden umbringen, vor allem viele, die ihre Frauen umbringen und die nie ins Gefängnis kommen.«
Leube lachte.
»Das gibt es nur in Romanen«, sagte er.
»Ich wusste nicht, dass Sie Romane lesen«, erwiderte Ingeborg.

»Als ich jung war, habe ich Romane gelesen«, sagte Leube, »damals konnte ich problemlos meine Zeit vertun, meine Eltern lebten noch. Und wie soll ich meine Frau umgebracht haben?«, fragte er nach langem Schweigen, während dem man nur das Feuer knistern hörte.
»Es wird behauptet, Sie hätten sie in eine Schlucht gestoßen«, sagte Ingeborg.
»In welche Schlucht?«, fragte Leube, dem die Unterhaltung zunehmend Vergnügen bereitete.
»In welche, weiß ich nicht«, sagte Ingeborg.
»Hier gibt es viele Schluchten, gnädige Frau«, sagte Leube, »es gibt die Schafsschlucht, die Blumenschlucht, die Schattenschlucht (die so heißt, weil sie immer im Schatten liegt) und die Schlucht der Kinder vom Kreuze, dann die Teufelsschlucht und die Marienschlucht, die Sankt-Bernhard-Schlucht und die Kieselschlucht, über hundert Schluchten gibt es von hier bis zum Grenzposten.«

In der gleichen Nacht verließ Ingeborg, nachdem sie und Archimboldi miteinander geschlafen hatten, das Dorf und nahm den Weg ins Gebirge. Das Licht des Vollmonds brach sich, wie es schien, im Schnee. Es wehte kein Wind und die Kälte war moderat, dennoch trug Ingeborg ihren dicksten Pullover, Jacke, Stiefel und Wollmütze. Hinter der ersten Kurve kam das Dorf außer Sicht, und zurück blieben nur ein Saum von Fichten und die Berge, die sich in der Nacht verdoppelten, allesamt weiß wie Nonnen, die sich nichts von der Welt erhoffen.
Zehn Minuten später schreckte Archimboldi aus dem Schlaf und stellte fest, dass Ingeborg nicht neben ihm lag.
... und wie er jetzt in Richtung Grenzposten stieg, froren ihm Hände und Gesicht ein, so dass er sie bald nicht mehr spürte, weshalb er von Zeit zu Zeit stehen blieb, in die Hände blies oder sie gegeneinanderrieb und sich ins Gesicht kniff, ohne Erfolg.

Leubes Rufe wurden immer seltener, bis sie schließlich ganz erstarben. Hin und wieder bildete er sich ein, er sähe Ingeborg am Wegrand sitzen und in den Abgrund schauen, der sich zu einer Seite auftat, aber als er näher kam, erkannte er, dass es ein Felsen war oder eine kleine, vom Schneesturm geknickte Fichte, was er gesehen hatte. Auf halbem Weg gab die Taschenlampe den Geist auf und er verstaute sie in einer Jackentasche, obwohl er sie am liebsten in die verschneiten Hänge geschleudert hätte. Im Übrigen schien der Mond so hell, dass man den Weg auch ohne Lampe gut erkennen konnte. Gedanken an Selbstmord und Unfall gingen ihm durch den Kopf. Er verließ den Weg und prüfte die Trittfestigkeit des Schnees. An einigen Stellen sank er bis zu den Knöcheln ein. An anderen, näher dem Abgrund zu, versank er bis zur Hüfte. Er stellte sich Ingeborg vor, wie sie achtlos drauflos stürmte. Sah sie auf eine Klamm zusteuern. Einen falschen Schritt tun. Fallen. Er tat dasselbe. Das Mondlicht jedoch beleuchtete nur den Weg: Am Grund der Schluchten herrschte Schwärze, eine gestaltlose Schwärze, in der undeutliche und ununterscheidbare Massen und Schemen dräuten.
Er ging zurück zum Weg und folgte ihm weiter bergan. Irgendwann merkte er, dass er schwitzte. Es war ein Schweiß, der ihm warm aus den Poren drang, der sich schlagartig in einen kalten Film verwandelte, der durch nachströmenden warmen Schweiß verdrängt wurde ... Jedenfalls hörte er auf zu frieren. Als er den Grenzposten schon fast erreicht hatte, sah er Ingeborg an einen Baum gelehnt unbeweglich in den Himmel schauen. Ingeborgs Hals, ihr Kinn, die Wangenknochen schimmerten wie von einem weißen Wahnsinn berührt. Er lief auf sie zu und umarmte sie.

Mit einer Geste wies sie Archimboldis Hand zurück und ging dann in Richtung Grenzposten, der aus einer kleinen einstöckigen Holzhütte bestand, aus deren Kamin ein dünner schwarzer Rauchfaden aufstieg, der sich im Nachthimmel verlor, sowie aus einem Schlagbaum, an dem ein Schild hing mit dem Hinweis, dass das hier die Grenze sei. Neben der Hütte gab es eine ringsum offene Überdachung, unter der ein kleiner Lieferwagen stand. Es brannte kein Licht, nur der schwache Schein einer Kerze drang durch den schlecht geschlossenen Vorhang eines Fensters im ersten Stock.
»Lass uns schauen, ob sie etwas Warmes für uns haben«, sagte Archimboldi und klopfte an die Tür.
Niemand öffnete. Er klopfte noch einmal, diesmal kräftiger. Der Grenzposten schien verlassen. Ingeborg, die außerhalb des Vordachs auf ihn wartete, hatte die Hände vor der Brust gekreuzt, und ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren und war so weiß wie Schnee. Archimboldi ging um die Hütte herum. Auf der Rückseite gab es neben aufgeschichtetem Brennholz eine Hundehütte von beträchtlicher Größe, aber keinen Hund weit und breit. Als er zum Vordereingang zurückkehrte, stand Ingeborg noch immer da und betrachtete die Sterne.
»Ich glaube, die Grenzer sind fort«, sagte Archimboldi.
»Da ist Licht«, sagte Ingeborg, ohne ihn anzusehen, und Archimboldi wusste nicht, ob sie das Licht der Sterne meinte oder das im ersten Stock.
»Ich werde ein Fenster einschlagen«, sagte er.

Er suchte am Boden nach etwas Hartem, fand aber nichts, weshalb er einen Fensterladen öffnete und dann mit dem Ellbogen eine Glasscheibe zertrümmerte. Anschließend entfernte er vorsichtig die restlichen Glassplitter und öffnete das Fenster. Ein schwerer, dumpfer Geruch schlug ihm ins Gesicht, als er sich durchs Fenster schob. Im Innern der Hütte war alles dunkel, nur vom Kamin kam ein mattes Glimmen. In einem Sessel daneben sah er einen Grenzbeamten mit aufgeknöpfter Jacke und geschlossenen Augen, der zu schlafen schien, aber in Wirklichkeit nicht schlief, sondern tot war. Im Zimmer nebenan entdeckte er, ausgestreckt auf einer Pritsche, einen weißhaarigen Mann in weißem Hemd und langer weißer Unterhose.
In dem Zimmer im ersten Stock, in dem sich die Kerze verzehrte, deren Licht sie vom Weg aus gesehen hatten, war niemand. Es war nur ein Zimmer mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem kleinen Regal, in dem mehrere Bücher, mehrheitlich Western, aufgereiht standen. Mit raschen, aber umsichtigen Schritten ging Archimboldi einen Besen und eine Zeitung holen, fegte dann die Scherben der eingeschlagenen Scheibe auf und ließ sie anschließend durch das Loch im Fenster nach draußen fallen, als hätte einer der Toten - von innen, nicht von außen - sie eingeschlagen. Dann schlüpfte er hinaus, ohne etwas anzufassen, nahm Ingeborg in den Arm, und so, Arm in Arm, kehrten sie ins Dorf zurück, während die ganze Vergangenheit des Universums auf sie herabfiel.

Er trat ins Zimmer, stellte Ingeborg ein paar Fragen und überreichte ihr dann genau so ein Päckchen, wie er es vor Tagen Archimboldi gegeben hatte. Die restliche Zeit schwieg er, saß steif auf seinem Stuhl und warf ab und zu neugierige Blicke auf die anderen beiden Kranken und deren Besucher. Als er ging, sagte er zu Archimboldi, er wolle mit ihm allein sprechen, aber Archimboldi hatte keine Lust, mit Leube zu reden, darum blieb er im Flur stehen, statt sich mit ihm in das Restaurant des Krankenhauses zu setzen, was Leube, der gehofft hatte, sich mit ihm in vertraulicherer Umgebung unterhalten zu können, irritierte.
»Ich wollte Ihnen nur sagen«, sagte der Bauer, »dass Ihre Frau recht hatte. Ich habe meine Frau ermordet. Ich habe sie in eine Schlucht gestoßen. In die Marienschlucht. Falls ich mich recht erinnere. Vielleicht auch in die Blumenschlucht. Jedenfalls habe ich sie in eine Schlucht gestoßen, habe ihren Körper stürzen sehen, an Vorsprüngen und auf Steinen zerschellend. Dann öffnete ich die Augen und suchte sie. Und dort unten lag sie. Ein Farbtupfer zwischen grauen Steinen. Lange stand ich da und sah zu ihr hinab. Ich stieg hinunter, warf sie mir über die Schulter und stieg mit ihr nach oben, aber sie wog nichts mehr, es war, als trüge man ein Bündel Reisig«.



Wir waren im Dschungel, wir waren zu viele, wir hatten zu viel Geld und zu viele Geräte, und nach und nach wurden wir alle verrückt. Francis Ford Coppola formuliert damit eine ziemlich genaue Beschreibung des Vietnamkriegs selbst - und vermutlich den entscheidenden Grund, wie aus einem Jahr unfassbarem Chaos auf den Philippinen "Apocalypse Now", eines der größten Meisterwerke der Filmgeschichte hervorgehen konnte.

Coppolas Vietnam-Epos beginnt mit einem Zusammenbruch - der nicht gespielt ist. Coppola dreht die Szene am Geburtstag des Schauspielers Martin Sheen, und der lässt es ordentlich krachen. "Ich war so betrunken, dass ich nicht mehr aufstehen konnte".

"Apocalypse Now" zeigt den Vietnam-Krieg als beklemmendes und psychedelisches Spektakel und hat seine Wirkung bis heute nicht verloren. Das mag damit zusammenhängen, dass die Dreharbeiten selbst ins Irrsinnige kippten - wie die Dokumentation "Reise ins Herz der Finsternis" 1991 auf erschütternde Weise belegt.

Ein Kriegsfilm, angelehnt an Joseph Conrads Roman "Heart of Darkness", verlegt nach Vietnam: Mit einer kleinen Mannschaft soll Captain Willard den Fluss hinauf bis nach Kambodscha fahren und den wahnsinnig gewordenen Colonel Kurtz, der im Dschungel eine Art religiösen Opferkult errichtet hat, töten.

Nachdem Coppola mit den ersten beiden "Pate"-Filmen zu einem der populärsten Regisseure Hollywoods und Millionär geworden ist, beschließt er, mit dem auf mehrere Hundert Seiten angewachsenen Drehbuch, dem Filmteam, seiner Frau, seinen drei Kindern und einem eigenen Filmvorführer im Februar 1976 auf den Philippinen das Projekt zu starten: Marlon Brando will Colonel Kurtz spielen, Harvey Keitel Captain Willard. Da die U.S. Army die Kooperation verweigert, mietet man Helikopter der philippinischen Armee.

Coppola beginnt dann, Milius' Script umzuschreiben. Große Teile des entstandenen Materials lässt er neu drehen. Marlon Brando wiederum droht, nicht auf die Philippinen kommen, dafür aber die Million $ Vorschuss behalten. In der fünften Woche dreht Coppola die berühmte Sequenz, in der eine Truppe Soldaten um den Surf-Enthusiasten Lt. Col. Kilgore ("Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen") ein Küstendorf bombardiert, um Zugang zum Strand zu bekommen. Die Proben lassen sich kaum organisieren, die Helikopterpiloten werden immer wieder kurzfristig zur Bekämpfung von Rebellentruppen in den Süden des Landes abberufen.

Es kommt noch schlimmer: Im Mai 1976 fegt ein Taifun über das Land, der etwa 200 Philippinern das Leben kostet. Fast alle Sets sind zerstört, die Produktion muss erneut pausieren, diesmal für sechs Wochen. Jeder Tag Verzögerung kostet zwischen 30.000 und 50.000 $ und bringt den Regisseur näher an die Privatinsolvenz. Dabei sind die Sets noch vergleichsweise kostengünstig: Die zahlreichen philippinischen Arbeiter, die die opulenten Kulissen für "Apocalypse Now" bauen, bekommen einen Wochenlohn von 14 $ - Marlon Brando kostet im gleichen Zeitraum eine Million.

Nach Wiederaufnahme der Dreharbeiten, wird das Treiben auf dem Set immer ausschweifender: Coppola lässt teure Weine, Steaks und Klimaanlagen aus den USA einfliegen, beginnt eine Affäre mit einer Assistentin. Die Pasta für den Kameramann und sein Team kommt aus Italien eingeflogen. Am Swimming Pool des Hotels, in dem die Crew untergebracht ist, sind Hunderte Bierflaschen aufgereiht, die Leute springen von den Dächern in den Pool. Martin Sheen, der inzwischen drei Schachteln Zigaretten am Tag raucht, erleidet beim Joggen einen Herzinfarkt und fällt für sechs Wochen aus.

Als er auf die Philippinen zurückkehrt, ist die Drehzeit bereits dreimal so lang als geplant. Coppola schreibt immer neue Szenen und lässt die Schauspieler improvisieren. Inzwischen ist sein Anspruch ins Riesenhafte gewachsen: "Apocalypse Now" soll nichts weniger als das Wesen des Menschen ergründen. Die Realität wirkt im Vergleich profan: Viele Crewmitglieder sind dauerbekifft, LSD und Speed kursieren auf dem Set.

John Milius soll Coppola zur Vernunft zu bringen. "Ich sollte ihm sagen, dass er verrückt geworden ist. Ich war wie Gerd von Rundstedt, der Hitler 1944 die Nachricht überbringen musste, dass der Krieg verloren und das Benzin an der Ostfront alle ist. Nach anderthalb Stunden kam ich wieder raus, und Francis hatte mich überzeugt, dass 'Apocalypse Now' der erste Film sein würde, der den Nobelpreis bekommt. Also ging ich zurück zur Crew und rief: 'Wir können gewinnen! Wir brauchen kein Benzin!' Er hatte mich komplett umgestimmt. Ich hätte alles getan."

Im September 1976 trifft Marlon Brando ein, das Finale im Tempel von Colonel Kurtz und seinen Anhängern soll gedreht werden. Brando hat Joseph Conrads "Herz der Finsternis" nie gelesen und seit "Der Pate II" ziemlich zugelegt, obwohl das Drehbuch eine ausgezehrte Figur vorsieht. Während Coppola und sein Star sich tagelang zurückziehen, um die Rolle neu zu konzipieren, macht sich auf dem Set ausgelassene Stimmung breit. Man tanzt und singt, Dennis Hopper ist inzwischen auf den Philippinen eingetroffen und rutscht vergnügt - wenn auch kaum in der Lage, sich seinen Text zu merken - durch die Kulissen, die mehr und mehr im Matsch versinken.

Coppola kollabiert in der Hitze, berichtet von einer Nahtoderfahrung. Ein paar Statisten veranstalten rituelle Tierschlachtungen. Im Mai 1977 verlässt die Crew die Philippinen wieder. Dauer des Drehs 238 Tage. "Apocalypse Now" spielt weltweit etwa 150 Millionen Dollar ein, gewinnt drei Golden Globes, zwei Oscars und die Goldene Palme.





Potjomkin, Militär und Geliebter Katharinas II., lässt Dörfer aus bemalten Kulissen errichten, um das wahre Gesicht der Gegend zu verbergen: Bolaño schreibt "2666", Lothar Struck die Kritik, Stichworte:



  • potemkinscher Roman, hinter dessen Fassaden sitzen die Deuter
  • Bubis, teilweise dem Fischer-Verlag nachempfunden
  • unterschwellig waberndes Bedrohungsszenario, löst Gefühl der Unwirklichkeit aus
  • 4. Teil Kulmination im großen apokalyptischen Strom
  • verkrampfte Allegorie auf das ambivalente Verhältnis zwischen USA und Mexiko
  • 104 Ermordete auf 342 Seiten
  • dieser Teil der lesenswerteste: Szenen der Kontemplation
  • schlüpfrige Details aus der Zusammenkunft erspart
  • von der Unmöglichkeit, zu weinen
  • Kriegserzählungen – personal ohne jede Empathie erzählt - Irrungen, Wirrungen und Vögeleien von aufreizender Langeweile
  • Und doch mächtige Szenen: als der Sechsjährige plötzlich unter Wasser vor Glück weint
  • Santa Teresa: die letzten Tage der Menschheit im vermeintlichen Frieden
  • Santa Teresa: Hauptstadt der Vergeblichkeit, die den Globus überzieht

  • Trugbild des Humanismus - an einem Ort wie Santa Teresa als Relikt der Vergangenheit freigelegt
  • Hochambitionierte Verrätselungen
  • Kafka zu häufig erwähnt, sein Ton bis fast zur Paraphrase kopiert
  • unzählige Allegorien, Anspielungen, Nebelkerzen
  • General als Gekreuzigter mit grossem Gemächt, Frau penetriert, später Anne Bubis
  • zu viele fruchtlose Verirrungen
  • bemüht wirkendes Scharadentum: flache Imitation eines pseudo-geheimnisvollen Existentialismussurrogats
  • Spielwiese für philologische Sinnsucher, die hinter jedem Gebüsch eine Legion böser Geister vermuten
  • alles der Verrätselung untergeordnet
  • großer Fehler des überdimensionierten Romans: Distanzierung zu einfach gemacht
  • Fülle und Fluktuation des Personals: lassen Empathie nicht zu
  • aufdringliche Intertextualität: Thomas Mann, Thomas Bernhard, Doris Lessing, Hubert Selby, Brent Easton usw. usw.
  • schier unerschöpflicher Steinbruch für Literaturexegeten
  • Deuter: verwursten ihr Wissen, brillieren mit immer neuen Assoziationsgewittern

Schlusswort:
Freilich, den blutleeren Schreibschulliteraturen, die die Kritik so oft und so voreilig in den Literaturhimmel hebt (teils aus Angst, sich mit wirklichen Talenten auseinanderzusetzen, teils aufgrund ästhetischer Rostspuren in ihrem Getriebe), ist dieser Roman natürlich meilenweit überlegen. Aber es bleibt ein irgendwie potemkinscher Roman: hinter den Fassaden sitzen nur die Deuter. Glauben Sie ihnen kein Wort, denn sie projizieren nur ihren eigenen Roman in dieses Buch.
Tatsächlich macht die Lektüre von "2666" nicht einmal unglücklich. Sondern nur apathisch.




Laminaria digitata


Laminaria hyperborea


Saccoriza polyschides


Chorda filum


Leathesia difformis


Ascophyllum nodosum (männlich/weiblich)


Laminaria Saccharina (heute: Saccharina latissima)


Padina Pavonia (richtig: Pavonica)


Sargassum vulgare


Porphyra umbilicalis