Wenn ich ein Buchmacher wäre,
würde ich darauf wetten,
dass die Zivilisation innerhalb der nächsten paar hundert Jahre zugrunde geht."
Und dennoch setzt er gegen die Herrschaft der "amerikanischen Millionäre"
auf ein vereinigtes sozialistisches Europa,
das seine politische Kultur,
seinen Weg zum egalitären Sozialstaat,
zur demokratischen Lenkung der Produktion verteidigen kann.
Die Schwierigkeiten seien enorm:
Die kapitalistischen USA würden,
mithilfe ihres "Schutzgebietes" Großbritannien,
die Einigung des Kontinents sabotieren.

Orwell, 1947




George Orwell

Orwell hatte eine unglaubliche Ein- und Weitsicht: All das, was heute geschieht, sah er vor gut 60 Jahren voraus.
1947 ertrinkt er um ein Haar im Corryvreckan . Um den Ablenkungen Londons zu entkommen und sich auf den Abschluss seinen Romans "1984" zu konzentrieren, hat er sich in die Einsamkeit der Hebrideninsel Jura geflüchtet, wo er vom Frühling 1947 bis zu seinem Tod 1950 im Bauernhaus Barnhill lebt. Zuvor war seine Frau Eileen Orwell während einer Operation verstorben und sein Haus durch eine deutsche V1 zerstört worden.

Auf der Rückfahrt von einem Bootsausflug nach Glengarrisdale im Nordwesten von Jura - Orwell hat wohl etwas in den Gezeitentabellen missverstanden - steuert er sein Boot zu nahe an die Strudel. Der Motor löst sich aus den Halterungen und geht über Bord, Orwells Schwager greift zu den Rudern, der Strudel weicht zurück, was sie vor dem Ertrinken rettet, sie erreichen einen Felsvorsprung bei Eilean Mor, etwa 1 sm vor der Küste Juras. Dort kentert das Boot beim Aussteigen. Orwell, seine beiden Begleiter, und seine dreijähriger Sohn werden zufällig von vorbeifahrenden Hummerfischern bemerkt - sie haben Feuer gemacht, um sich zu wärmen...






Der Letzte Mann in Europa (56.1104°N 5.6928°W) schaut aus dem Fenster. Eine Wiese fällt zum Meer hinab, Wasser wirbelt unruhig in einer felsigen Bucht zusammen. An klaren Tagen kann er über das Wasser bis zum Mull of Kintyre schauen, heute ist die Aussicht durch Nebel und Regen verdeckt, es gibt keine Lebenszeichen außerhalb des einsamen Bauernhauses.



Es scheint das Ende der Welt. Er rollt eine Zigarette aus seinem liebsten dunklen, starken Tabak, und - über die Schreibmaschine gebeugt, beginnt er, auf die Tasten zu klopfen, den ersten Entwurf seines letzten großen Romans.
Die Hebridan-Insel, auf der Orwell 1984 schrieb, hat sich wenig verändert, seitdem er im Mai 1946 aus London ankam und Frieden und Ruhe suchte, um die Alptraumwelt von Big Brother hervorzuzaubern. Es gibt weniger Menschen, dafür mehr Autos, Fernsehen und Handys, die das Gefühl der Isolation vermindern. Über Orwell erfährt man wenig - die Einheimischen wollen offensichtlich nichts von ihm wissen ...
Bei der letzten Zählung betrug die Bevölkerung 184, die meisten Inselbewohner leben an einer einspurigen Straße, die die geschützte Ostküste auf 30 Meilen umkreist, die sich für weitere 5 Meilen übers Moor zu Orwells Außenposten schlängelt (Goolge Earth war im Juni 2009 da!).





Es ist die einzige Straße auf der Insel, sie weist ein Hotel, ein Geschäft, eine Whiskybrennerei und eine Benzinpumpe (zwei Stunden täglich besetzt) auf. Recht und Ordnung pflegen zwei Wildhüter, die als Special-Constables dienen, wenn das notwendig wird, was kaum jemals der Fall ist.
Das Genie Orwell, der letzte Mann Europas, hatte 2003 seinen 100. Geburtstag und 1945 Trump vorausgesehen ...



Die Schweinebande auf der Farm der Tiere ist eine stalinsche KP, der Staat Ozeanien Prototyp eines technologisch hochgerüsteten Elendskommunismus und George Orwell ein Autor für die Lesebücher der Oberstufe, ein halbes Jahrhundert lang.
"Aber ich muss Ihnen sagen", so schrieb er einem Leser, "ich glaube, diese Dinge sind insgesamt im Vormarsch." Die Herrschaft "anglo-amerikanischer Millionäre" oder des "100%-Amerikanismus" sei "so totalitär", wie es sich nur denken lässt. Orwell hat über die Jahre unseren Blick für diese Dinge geschärft, für Gehirnwäsche, Folter, Loyalitätsaufmärsche. Aber auch für deren freiheitlich-demokratische Äquivalente: fabrizierte Lügen, die zum Krieg führen, die Ausrufung nationaler Gebetstage, die Erscheinungsformen unverordneter Zensur oder Behörden, die unsere E-Mails überwachen.

Wir haben von Orwell gelernt, die saisonalen Ergänzungen der newspeak, der "Neusprache", zu dechiffrieren: "Gerechtigkeit ohne Grenzen" etwa oder "Reform". Wer noch mit Gedächtnis begabt ist, kann das alles durchschauen. Aber es verstärkt nur das Gefühl der Ohnmacht. Wir haben uns an "diese Dinge" gewöhnt. Auch an die neuen Formen des Big Brother, des allgegenwärtigen Großen Bruders, die Orwell kommen sah. Noch während er an 1984 schreibt, polemisiert er gegen die "Vergnügungszentren der Zukunft", diese Fit-for-Fun-Konglomerate aus Schwimmbad, McDonald’s, Kegelbahn, Konzerthalle und vor allem Musik, Musik, Musik, in alle Ritzen der Welt geschmiert. Das wirke darauf hin, "unser Bewusstsein zu schwächen, die Neugier zu trüben und uns ganz allgemein den Tieren anzunähern".



So zivilisiert dem mitteleuropäischen Wohlstandsbürger sein komfortabler Erdenwinkel auch erscheinen mag – die Welt, als Ganzes genommen, sieht gar nicht so viel anders aus als Orwells perfide Wohlfahrtsdiktatur in 1984
Ozeanien heute, das ist der Turbofeudalismus, ein grenzenloses Reich aus Multis, Finanzmärkten, Medien und US-Marines. In den Weltmarktburgen leben die Kernarbeiter des Kapitals, mit allen Privilegien versehen, darum herum die Zone der Zulieferer, die mit reduzierten Löhnen und Sicherheiten leben müssen. Und noch weiter draußen die geplünderten Südregionen, die Slums und Sweatshops der Megametropolen, in denen das Heer der proles im Dunkeln vegetiert.



Eric Arthur Blair wird 1903 als Sohn eines Steuereintreibers in Motihari, in Indien, geboren; ein Jahr später zieht die Mutter mit ihm und seiner Schwester nach England, wo sich die Familie in Henley-on-Thames ein Haus kauft.

Er war ein Kind jener schäbig vornehmen Unterschicht der Oberschicht, die von wenig mehr zusammengehalten wurde als von bröckelnden Werten: Ehre, Ehe, anständiges Englisch, Soldatentugenden und dem Dünkel gegenüber der Unterklasse. 1948, zwei Jahre vor seinem Tod, notiert George Orwell im Krankenhaus ein Gedicht über die Klempnerskinder, die Spielkameraden seiner frühen Tage:

Wie lange währte dies Paradies
nicht mal ein Frühling verging
es war, glaub ich, immer noch Mai
da beging ich das tödliche Ding.

Ich traf die Kinder auf der Straße
und ich sagte es, ja, ich sagte es
Ich darf nicht länger mit euch spielen
meine Mutter sagt: Ihr seid gewöhnlich.

Ich selbst bin bis heut ungewöhnlich
wie irgend nur jemand im Land
solid wie der Fels von Gibraltar
und in Oxford-Englisch gewandt.

Doch seit jenem Tag hab ich niemals geliebt
nur solche, die mich nicht liebten.

"Das tödliche Ding" - der Klempnerstochter auf Geheiß der Mutter zu sagen, sie sei "gewöhnlich" -, dieser dreifache Verrat des Sechsjährigen an den Freunden, an der Lust und am eigenen Willen schmerzte immer noch. Die Erinnerung an die Einübung in die Klassengesellschaft, an die körperliche Trennung der Oberen von den Unteren, an die Furcht und den Ekel der Erwachsenen vor ihren Angestellten ("They smell"), an die Unterdrückung der Wildheit und jeder Umarmung -, sie ist der Untergrund von Orwells Lebensthema. Der tausendfache Verrat ist das Futter, mit dem die Machtapparate und Hierarchien aller Art sich speisen. Die Macht lebt vom Verrat der Ohnmächtigen untereinander, vom Mord am Gefühl und am Gewissen. Diese Lektion steckt im schwarzen Kern von 1984.

Erst als er sein tiefstes Gefühl verrät, seine Liebe zu Julia, wird Winston Smith, der Protagonist des Romans, zum Victory Gin saufenden Ausführungsorgan der Machthaber. Nur weil die Winstons die Julias verraten, und die Julias die Winstons, können die Großen Brüder leben, und weil alle voneinander wissen, dass sie Verräter sind, wachsen das Misstrauen und die Einsamkeit. Die Furcht vor der Folter ist das totalitäre Extrem. Aber der Verrat hat seine demokratische Normalzeit: Die Angst, aus dem Netz der Gesellschaft zu fallen, trennt die Menschen; der Kampf im Rattenrennen macht uns füreinander unempfindlich.
Er habe, schrieb Orwell gegen Ende seines Lebens, "die Sklavenseele Stück für Stück aus sich herausgeprügelt".

Fotos aus der Internatszeit in St.Cyprian’s in Sussex (zur Vorbereitung auf Eton - ein Stipendium hatte es möglich gemacht) zeigen einen weichen, pausbäckigen Jungen, der oft weinte, das Bett nässte, heimlich dichtete. "Ich bezweifelte nicht die herrschenden Regeln", erinnert er sich später. "Wie konnten die Reichen, die Starken, die Eleganten, die Schicken, die Mächtigen Unrecht haben? Ich rebellierte nie intellektuell, nur dem Gefühl nach." Der Internatszögling Eric Blair taucht ab, um "in der Mitte seines Herzens ein unkorrumpierbares Selbst" zu schützen. Und dieses Selbst weiß: Was immer er äußerlich zu tun gezwungen ist – das "einzige echte Gefühl", das er gegenüber dieser Gesellschaftsmaschinerie hat, ist "Hass".

Die Zeit in Eton verliest, verträumt, verliebt er. Die Abschlussnoten reichen nur für eine Karriere als Polizeibeamtenanwärter in Birma. Dort, in Mandalay und später im Irawadi-Delta rund um Rangun, beobachtet der 20-Jährige, wie der Reichtum des Empire erprügelt, erschossen, erpresst wird. Er blickt genau hin, auch wenn er Exekutionen kommandiert. 1927, nach fünf Jahren, beim ersten Heimaturlaub, kommt er um seine Entlassung ein. "Die Gesichter haben mich verfolgt", schreibt er, die Gesichter derer, die er geschlagen, gedemütigt, missachtet hat, "ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen".

Und er beschließt: abzusteigen. Kauft sich gebrauchte Klamotten, lebt in den Arbeitervierteln von London und Paris, vagabundiert durch Südengland, als Hopfenpflücker, Gelegenheitsarbeiter, Kellner, Hilfslehrer, geht den Weg zurück, der ihn von den Klempnerskindern entfernt hat, und schreibt 1928 für Henri Barbusses Le monde seinen ersten professionellen Artikel, über die Zensur in England. Eric Arthur Blair verwandelt sich in George Orwell, auch äußerlich: ein hagerer Mann, einen Meter neunzig groß, der mit ein paar Hosen und abgestoßenen Jacketts durchs Leben kommt, selten länger als fünf Stunden schläft, weil er trotz der sieben Romane, der zwei großen Reportagen, der 700 Essays und Artikel, die er in 20 Jahren schreibt, nie das Gefühl verliert, "dass ich zuviel Zeit vertrödele".

Er bewundert die großen Autoren seiner Zeit, Lawrence, Eliot, Pound, Henry Miller – aber wo ist der Zweck ihres Schreibens? "Unsere Augen werden auf Rom gerichtet, auf Byzanz, auf den Montparnasse, auf Mexiko, auf die Etrusker, auf das Unbewusste und auf den Solarplexus – auf alles außer auf die Orte, wo gerade wirklich etwas geschieht." Und die Jüngeren, die sich der neuen, der kommunistischen Religion in die Arme werfen: Spender, Auden, Isherwood? "Pfadfinderatmosphäre mit nackten Knien und gemeinschaftlichem Singen."
1933 erscheint sein erstes Buch: Down and out in Paris and London, eine Reportage-Bilanz seiner Wanderjahre. Orwells Ehrgeiz wird es, aus dem politischen Journalismus eine Kunst zu machen. "Mein Ausgangspunkt ist ein Gefühl von Parteilichkeit, ein Gespür für Ungerechtigkeit. Meine erste Sorge ist, gehört zu werden. Aber ich könnte weder ein Buch schreiben noch einen Artikel, wenn es nicht auch ein künstlerisches Erlebnis wäre. Es handelt sich darum, meine ureigensten persönlichen Neigungen und Abneigungen mit einer im wesentlichen öffentlichen, auf allgemeine, nicht individuelle Fragen gerichteten Arbeit zu verschmelzen, wie sie unsere Epoche jedem von uns aufzwingt."

Aufzugeben, Pazifist oder Aussteiger zu werden, das sei nur legitim, wenn es nicht darauf ankomme, wer siegt. Aber solange es einen Unterschied mache, gelte die Pflicht zum Kampf. Er jedenfalls spüre diese Pflicht, erklärt er dem kopfschüttelnden Henry Miller, der ihn in einem Pariser Hotel anbrüllt, die Zivilisation gehe sowieso vor die Hunde – und ihm einen Pullover um die Schultern legt, weil es so verdammt kalt sei in Katalonien um diese Zeit. Orwell will über den Spanischen Bürgerkrieg nicht nur schreiben, das kommt ihm "unanständig" vor. Im Dezember 1936 reist er nach Barcelona, um als Soldat mitzukämpfen. Nicht in den kommunistischen Prominentenbrigaden, sondern bei den elendsten unter den Republikanern: bei den Anarchisten. Und sein Bericht aus Barcelona macht deutlich, was Republik für ihn heißt:



"Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie Rädchen in der kapitalistischen Maschine. Kellner und Ladenaufseher schauten jedem aufrecht ins Gesicht und behandelten ihn als ebenbürtig. Unterwürfige, ja auch förmliche Redewendungen waren vorübergehend verschwunden." Im Mai 1937 trifft ihn eine Kugel in den Hals; er überlebt und rettet sich wenig später mit seiner Frau Eileen über Frankreich zurück nach England.



"Vom Gefühl her definitiv links", nannte er sich, einen "Tory-Anarchisten". Noch vor seinem Einsatz in Spanien war er im Auftrag von Victor Gollancz ins Revier der arbeitslosen Bergarbeiter nach Nordengland gereist. Daraus entstand sein vielleicht stärkstes Buch,

eine statistisch unterfütterte Reportage, zugleich ein politischer Essay und eine moralische Kritik am Mittelschichtsdasein. Es sei "für unsereinen" beschämend, so sein Resümee, zuzusehen, "wie arme Teufel unter Tage dafür sorgen, dass Sie und ich und der Herausgeber des Times Literary Supplement und die Schöngeister und der Genosse X, Verfasser des Marxismus für Minderjährige, es ein wenig warm haben". Als er im Zug zurück nach London saß, beobachtete Orwell eine früh gealterte junge Frau, die im Garten eines Slum-Hauses auf kalten Steinen kniete und ein Abflussrohr reinigte.
"Sie sah auf, als der Zug vorbeifuhr, und ich merkte mit einem Schlag, wir irren, wenn wir sagen, dass es für sie nicht das Gleiche ist, wie es für uns sein würde. Sie wusste genau, was mit ihr geschah."
Sozialismus, das ist für Orwell vor allem anderen: Würde. Und politischer Verrat ist der Verrat am instinktiven Gefühl für Gleichheit. In den Familien der Bergleute fand Orwell, was er später, in 1984 , Winston Smith sagen lässt: "Wenn es Hoffnung gibt, dann bei den proles." Nicht wegen irgendeiner revolutionären Kraft des Proletariats. Orwell schätzt vielmehr die Unverblümtheit, die Familienloyalität, die instinktive Solidarität, die Körperlichkeit, die Gelassenheit derer, die gar nicht erst Karriere machen (können), die außerhalb von Hierarchie und käuflicher Unverwechselbarkeit leben (müssen). Später, in den Vierzigern, als er, umgeben von Angestellten und bezahlten Intellektuellen, bei der BBC in der Kriegspropaganda-Abteilung arbeitet, notiert er in sein Tagebuch: "Die einzige Zeit, in der man Menschen im Funkhaus singen hört, ist früh am Morgen, zwischen sechs und acht. Dann sind die Putzfrauen da. Sie singen wunderbare Choräle, wenn sie die Gänge fegen."

Es sind bittere Jahre: Die Tuberkulose beginnt ihn zu quälen, noch im Juni 1944 wird er in London ausgebombt, ein Dreivierteljahr später stirbt seine Frau nach einer Operation. Dann, im August 1945, erscheint die Novelle Die Farm der Tiere, seine Abrechnung mit dem Stalinismus. Vier Jahre später 1984, das Lehrbuch über den totalen Verrat.
"Socialism as I understand it", pflegte er zu sagen – "der Sozialismus, wie ich ihn verstehe". Das hat ihn zeitlebens quer stehen lassen, zu den Politkommissaren der KP, zu den von "Verantwortung" korrumpierten Sozialdemokraten, zu den Pazifisten, die im Kampf für die plutokratischen Demokratien keinen politischen Sinn sahen, zu den "Bubi-Linken" in den Londoner Salons, den Ästheten, die die Arbeiterklasse kulturell "heben" wollten, zu all den "miefigen kleinen Orthodoxien" der Quäker, Sandalenträger, Weltverbesserer, Trotzkisten oder Yogi-Jünger. Sein Sozialismus war anarchistisch und frugal: "Unter dem kapitalistischen System aber müssen, damit man in England relativ komfortabel leben kann, hundert Millionen Inder auf dem Existenzminimum vegetieren – ein schlimmer Zustand, aber man willigt jedesmal in ihn ein, wenn man in ein Taxi steigt oder einen Teller Erdbeeren mit Sahne isst. Die Alternative besteht darin, dass wir alle hart arbeiten und hauptsächlich von Kartoffeln und Heringen leben. Das ist das allerletzte, was irgendein Linker will."

Ein halbes Jahrhundert nach 1984 hat der Kapitalismus in den reichen Ländern Gleichheit durch Konsum ersetzt, aber nach wie vor zahlt der arme Teil der Welt den Preis. Im Zweifel werden sich die Eliten einigeln, die Zahl der Bodyguards erhöhen und die Polizei militarisieren. Die Gier der Mittelschichten, das, was sie haben, mit Erbitterung und Radikalität zu verteidigen, ist märchenhaft.
Die Umstände seien gegen den Sozialismus, schreibt Orwell 1947. "Wenn ich ein Buchmacher wäre, würde ich darauf wetten, dass die Zivilisation innerhalb der nächsten paar hundert Jahre zugrunde geht." Und dennoch setzt er gegen die Herrschaft der "amerikanischen Millionäre" auf ein vereinigtes sozialistisches Europa, das seine politische Kultur, seinen Weg zum egalitären Sozialstaat zur demokratischen Lenkung der Produktion verteidigen kann. Die Schwierigkeiten seien enorm: Die kapitalistischen USA würden, mithilfe ihres "Schutzgebietes" Großbritannien, die Einigung des Kontinents sabotieren. Vor allem aber müsse Europa aufhören, den Rest der Welt auszubeuten. Es müsse Afrika und den Nahen Osten zu Demokratien "auf völlig gleicher Stufe mit den europäischen Völkern" entwickeln. Eine "ungeheure geistige Neuorientierung" sei dazu erforderlich – weniger der Völker, die zumindest "passiv darauf vorbereitet" seien, als der Eliten, denen die Vorstellungskraft fehle, zu sehen, was getan werden muss, und die Kraft, die "nötigen Opfer von sich und ihren Anhängern zu verlangen". Aber: "Wenn überhaupt, dann Europa." Heute hieße das wohl: Wollen wir Mittelschichtler für ein Wiener Schnitzel 50 € bezahlen, damit der Koch sein Kind aufs Gymnasium schicken kann, und für die Putzfrauenstunde 20, damit auch die Bulgaren und Serben Tarifverträge einführen?

Aber es gibt da noch ein Hindernis für den Sozialismus, so wie Orwell ihn verstand. Es ist der Geist der Fortschrittler, die in der Produktivität und nur in ihr den Hebel zum Heil sehen. "Weil ihre Augen an den wirtschaftlichen Fakten klebten, nahmen sie an, dass der Mensch keine Seele hat, und explizit oder implizit haben sie das Ziel einer Utopie errichtet, die rein materialistisch ist." Sozialismus und Kapitalismus in ihren gängigen Spielarten teilen, was Orwell "die billige Auffassung von ,Fortschritt‘" nennt. Die "Maschinenzivilisation" mit ihren Großbetrieben, Großbürokratien, Großtechniken, in der es "keine Unordnung geben wird, keine unverarbeiteten Fäden, keine Wildnis, keine wilden Tiere, kein Unkraut, keine Krankheit, keinen Schmerz", sondern nur noch "mehr Hygiene, mehr Effizienz, mehr Maschinen" - bis man im "Paradies kleiner fetter Männer" angelangt ist. Wenn politische Gleichheit nur als materieller Wohlstand verstanden wird, dann ist das Resultat "Degeneration". Orwell mokiert sich, dass Tische nicht mehr solide gearbeitet sind und glatt polierte Äpfel aus Neuseeland nach Sägespänen schmecken. Er besteht auf einer natürlichen Welt nach menschlichem Maß. "Denn der Mensch bleibt nur menschlich, wenn er das Einfache in seinem Leben bewahrt."

Der deutsche Schriftsteller Arthur Koestler bemerkte seine "gnadenlose Integrität", andere Freunde entdeckten an ihm etwas "Johannes-der-Täufer-artiges", "etwas sehr Unschuldiges und furchtbar Einfaches". Orwell sah keinen Grund, als richtig erkannte Gewohnheiten dem Fortschritt zu opfern: einfache Genüsse, gesunde Härte. Er war ein Asket, der sich seine Möbel selbst tischlerte, den Garten bestellte und in dem Dorf, in dem er 1936 lebte, einen Krämerladen für die Bauern eröffnete. Ein Atheist, der das Ableben einer Religion begrüßte, die das Elend auf Erden mit dem tröstenden Hinweis auf die Gleichheit im Himmel verzuckert hatte. Aber ohne "etwas wie Religion", hielt er dafür, kämen wir nicht aus. "Wenn der Tod allem ein Ende setzt, fällt es viel schwieriger zu glauben, dass man auch dann im Recht sein kann, wenn man besiegt worden ist. Staatsmänner, Nationen, Theorien, Aktionen werden dann fast zwangsläufig nach ihrem materiellen Erfolg beurteilt."
Etwas wie Religion: Orwell verstand darunter die Ahnung, "dass der Mensch kein Individuum" ist, sondern etwas fühlt "von einem Organismus, der größer ist als er selbst und sich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt. Noch ein bisschen mehr Bewusstsein davon – und der Sinn für Loyalität könnte auf die Menschheit selber übertragen werden. Was keine bloße Abstraktion ist." Sondern die Lehre einer irdischen Religion ("Wir müssen lernen, Brüder zu sein, auch ohne einen gemeinsamen Vater"), die ihren Anhängern etwas zumutet. Denn "das Wesen des Menschen besteht darin, daß man letztlich bereit ist, zu verlieren, geschlagen und zerbrochen am Leben. Es ist der unentrinnbare Preis dafür, dass man seine Liebe zu den anderen behält."

Einer seiner Romanhelden fragt fassungslos: "Warum lassen sie sich so etwas gefallen?", als er sieht, wie die Verkäuferinnen im Warenhaus von einem Kommis zusammengestaucht werden. Es ist für Orwell eine Art "spirituellen Selbstmordes". Ihn nicht zu begehen, die einfachen Wahrheiten und sich selbst nicht zu verraten, "den Sklaven aus sich herauszuprügeln", das bleibt wohl die letzte und stärkste Waffe im permanenten Kampf um die tägliche Republik. "Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man sich unversehrt bewahrte, gab man das Erbe der Menschheit weiter", schreibt Winston Smith in sein Tagebuch. Und Orwells letzte Eintragung in das eigene Journal lautet: "Mit fünfzig hat jeder das Gesicht, das er verdient."
Er ist erst 46, als er 1950 in London an Tuberkulose stirbt. Und er hatte lange geschwankt, wie er seinen letzten Roman nennen sollte: 1984 oder Der letzte Mann in Europa.

Quelle: Mathias Greffrath in DIE ZEIT vom 18.06.2003