Drei Mal, 1821, 1822 und 1823, war Johann Wolfgang von Goethe in dem damals noch im Aufbau befindlichen Kurort Marienbad in Westböhmen, besucht Tanz- und Spielabende – und unternimmt mit Familie von Levetzow ausgedehnte Spaziergänge. Ulrike von Lewetzow, 1804 in Leipzig geboren, verkehrt mit ihrer Mutter Amalie,
die sich von ihrem Vater getrennt und dessen Vetter geheiratet hat (einen schneidigen Dragoner in englischen Diensten, der alles verspielt und 1815 in der Schlacht von Waterloo fällt), im Kreise des Grafen Franz Klebelsberg-Thumburg, den die Mutter später heiratet. Er - Hofkammerpräsident - baut 1821 das damals schönste Palais im aufstrebenden Marienbad, und dort treffen sie Goethe. Der Dichter ist hier ständiger Gast, 17 Mal besucht der das Königreich Böhmen. In Marien-, Karls- und Franzensbad verbringt er insgesamt über drei Jahre seines Lebens. Nicht nur zur Kur kommt er hierher, Goethe widmet sich naturwissenschaftlichen Studien, trifft sich mit böhmischen Intellektuellen der Zeit, beginnt ein tschechisch-deutsches Wörterbuch und verfolgt mit Interesse die tschechische Wiedergeburtsbewegung; er wird Ehrenmitglied des 1818 gegründeten böhmischen Nationalmuseums, dem er einen Teil seiner Mineraliensammlung stiftet.
Der Dichterfürst wirft ein Auge auf die damals erst 17-jährige Ulrike. Ein Jahr später trifft er sie erneut in Marienbad – fühlt sich durch den Kontakt mit der 18-jährigen „temporär verjüngt“. Er steigert sich in seine Liebe hinein, verfasst zahlreiche Gedichte an bzw. über Ulrike. Die Liebe des alten Geheimrats zur jungen Dame ist Thema der Kursaison, sorgt in Anbetracht des Altersunterschiedes für Skandal.
Im folgenden Jahr - er wohnt im "Zlatý hrozen" (Zur Goldenen Traube, heute Museum) - hält er schriftlich um Ulrikes Hand an. Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Goethes Dienstherr, ist dem liebestrunkenen 74-jährigen behilflich, verspricht Ulrikes Mutter Amalie eine herrschaftliche Wohnung in Weimar, Ulrike selbst 10.000 Taler jährlich.
Mutter Lewetzow gibt zu verstehen, dass ihr dies nicht ganz recht sei, da ein etwas grosser Altersunterschied bestehe. Mutter und die drei Töchtern reisen ab nach Karlsbad. Goethe nach. Am 28. August feiert er zusammen mit Ulrike und Familie im Gasthaus "Zum Schimmel" in Loket (Elbogen) seinen 74. Geburtstag. Als er sich an jenem Tag von Ulrike von Lewetzow mit Kuss verabschiedet, ist es das letzte Mal, dass sie sich sehen.
Amalie von Lewetzow zieht mit den Töchtern auf das Anwesen des Grafen Klebelsberg in Trebivlice in Nordböhmen.
Ulrike stirbt dort - ledig - 1899 mit 95 Jahren.
"Keine Liebe war das nicht. Ich habe den Herrn Geheimrat nur einmal geküsst und das war zum Abschied, als wir uns das letzte Mal sahen."
Und 15 Jahre später trifft Chopin Marie - und auch dessen Heiratsantrag wird abgelehrt
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Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören.
Den tiefsten Sinn, den Sinn, ihr zu gehören.
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt.
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.
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W. G. Sebald: Marienbader Elegie
(Über das Land und das Wasser S. 79ff)
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Ich kann mir vorstellen
wie er durch die Flucht
der drei nach Südwesten
hinausgehenden Zimmer
geschritten ist im zimt-
braunen Rock in Gedanken
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mit mancherlei Dingen
beschäftigt zum Beispiel
mit dem Plan einer
Wolkenlehre den er
lange schon hegt aber
auch ein wenig zerfahren
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& wankelsinnig aufgrund
seiner Leidenschaft für
Ulrike deretwegen er nun
zum dritten Mal an diesen
neuaufstrebenden Ort
gekommen ist. Er schaut
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aus dem Fenster auf die
in gleichmäßigem Abstand
gesetzten Kugelbäumchen
rings um den Platz vor
dem Kebelsbergschen Palais,
sieht einen Gärtner der einen
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Karren bergan schiebt, ein
Amselpaar auf dem Rasen.
Die Nacht über hat er schlecht
geschlafen in seinem engen
Bett, wie ein Käfer kam
er sich vor oder sonst
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ein seltsames Tier, bis
draußen der Tag seine
Flügel regte & er sich
erheben durfte zur
Fortsetzung seines Werks.
Jetzt freilich möchte er
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am liebsten sich wieder
niederlegen aber gleich
wird man zur Tafel rufen.
Einen Hecht vielleicht
könnte es geben, dann
Schnitzelfleisch & zuletzt
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eine Waldbeerengrütze.
Auf das Kochen verstehen
sich ja die Böhmen: die
Buchteln zum Morgenkaffee
waren ganz vorzüglich &
das allgeliebte Wesen schien
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wieder so sanft & zart
gewoben, so sehr ihm
zugetan, daß er vor
Hoffnungslust beinah
verging, das Herz
im Hals klopfen spürte.
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Auf diese Weise geht
es denn dahin. Er
blickt ihr lang in
die Augen & dreht
sein fein gesticktes
Serviettenetui einmal
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links & einmal rechts
herum. Als die Mutter
seinen Antrag um
die Hand der Tochter
zögernd bescheidet
reist er umdüstert
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nach dem letzten grausam
süßen Kuß durch das
Gebirge fort & schreibt
noch in der Kutsche
die berühmte drei &
zwanzigstrophige Elegie
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von der es in Anlehnung an
seine eigenen Worte heißt
sie sei einer stürmischen
Bewegung der Gefühle
entsprungen & die reifste
Schöpfung seines Alters.
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Mir aber wollte es
nicht recht gefallen
dies herrliche Geflecht
verschlungener Minnen,
welches der Dichter
bei der Heimkunft
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in seiner schönsten
Schrift kopiert &
eigenhändig mit
einem Deckel aus
rotem Maroquin &
einem Seidenband
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gebunden hat. Ein
Faksimile davon habe
ich heute morgen
gesehen im Museum
von Marienbad nebst
ein paar anderen Sachen
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die mir viel näher
gingen & unter denen
eine Dochtschere gewesen
ist & ein Siegellacksatz,
ein Ablegeschälchen aus
Papiermache & eine Feder-
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zeichnung Ulrikes auf Papp-
karton, darstellend, etwas
unsicher in der Perspektive,
den nordböhmischen Ort
Trebívlice in dem sie bis
zu ihrem Tode unvermählt
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lebte. Außerdem ein china-
gelbes Tulpenbaumblatt
aus ihrem Herbarium quer
über die dünnen Adern mit
dunkler Tinte beschriftet,
sowie ein trauriger Rest
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schwarzer Spitzen, die
krajky heißen auf tschechisch
mit einem schönen Wort,
eine Art Halsband oder
Kravatte & zwei Manschetten,
Pulswärmern ähnlich &
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so eng, daß das Gelenk
ihrer Hand nicht viel
stärker gewesen sein kann
als das eines kleinen
Kindes. Und dann ist
da noch ein Stahlstich
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der das Fräulein von
Levetzow zeigt an
ihrem Lebensabend.
Der sie damals umwarb
liegt jetzt schon lang
unter dem Boden & sie
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steht in einem schweren
grauen Taffetkleid bei
einem Büchertisch mit
einer schrecklichen Stopsel-
lockenfrisur & einem ge-
spenstisch weißen Gesicht.
Marienbad, 14. VIll. 99
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"Das Klebelsberg-Palais, sagte er, ist schon eine Provokation. Hundert Zimmer auf drei Stockwerken, eine Prachtsfassade, fünfzig Meter breit. Kann das gutgehen? Exzellenz, wenn etwas gutgehen muss, geht es gut, sagte sie streng belehrend. Eigentlich in seinem Ton. Goethe staunte. Und fragte, wenn sie so rede, wen er da reden höre.
Mich, sagte sie. Aber so wie er über Gewittertote und Seneca alles von einem Kriminalrat in Eger habe, so habe sie alles, was Marienbad angehe, von ihrem zukünftigen Stiefvater, dem Grafen Klebelsberg, und ihrem Großvater, dem Baron Broesigke. Die beiden sollte der Geheimrat abends einmal reden hören. Marienbad, die grünste Einöde Europas, an der Europas Reichste immer vorbeigefahren sind, nach Karlsbad. Die werden jetzt Halt machen in Marienbad. Klebelsberg, im Hauptberuf immerhin österreichischer Finanzminister, und ihr Großvater Broesigke seien Rechner. Der Großvater habe hier mitgebaut. Der sei übrigens, und das sage sie nur, dass Goethe wisse, auch in ihrer Familie komme Höheres als Älteres vor, der Vater ihrer Mutter sei ein Patenkind des großen Preußenkönigs Friedrich."
Walser: Ein liebender Mann
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Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf einem panzerartig harten Rücken und sah,
wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen
geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
Kafka: Die Verwandlung
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... denn die deutsche Dichtung hat seitdem keine sinnlich großartigere Stunde gehabt
als den Überstrom urmächtigen Gefühls in dies mächtige Gedicht.
Stefan Zweigs Diagnose: einerseits "neue Pubertät" Goethes,
andereseits "sinnlich großartigste Stunde der deutschen Dichtung"
"Im Februar 1822 hatte Goethe schwerste Krankheit zu überstehen, heftige Fieberschauer durchschütteln den Körper,
zu manchen Stunden ist das Bewußtsein schon verloren, und er selbst scheint es nicht minder.
Die Ärzte, die kein deutliches Symptom erkennen und nur die Gefahr spüren, sind ratlos. Aber plötzlich,
wie sie gekommen, entschwindet die Krankheit: im Juni geht Goethe nach Marienbad, ein vollkommen Verwandelter,
denn fast hat es den Anschein, als ob jener Anfall nur Symptom einer inneren Verjüngung, einer »neuen Pubertät«
gewesen wäre; der verschlossene, verhärtete, pedantische Mann, in dem das Dichterische fast ganz zur Gelehrsamkeit
verkrustet war, gehorcht seit Jahrzehnten wieder nur noch ganz dem Gefühl. Musik »faltet ihn auseinander«, wie er
sagt, kaum kann er Klavier spielen und besonders von einer so schönen Frau wie Szymanowska spielen hören, ohne
daß seine Augen in Tränen stehen; er sucht aus tiefstem Triebe Jugend auf, und staunend sehen die Genossen den
Vierundsiebzigjährigen bis Mitternacht mit Frauen schwärmen, sehen ihn, wie er seit Jahren wieder zum Tanz antritt,
wobei ihm, wie er stolz erzählt, »beim Damenwechsel die meisten hübschen Kinder in die Hand kamen«. Sein starres Wesen
ist magisch aufgeschmolzen in diesem Sommer, und aufgetan, wie seine Seele nun ist, verfällt sie dem alten Zauber,
der ewigen Magie. Das Tagebuch vermeldet verräterisch »konziliante Träume«, der »alte Werther« wird wieder in ihm wach:
Frauennähe begeistert ihn zu kleinen Gedichten, zu scherzhaften Spielen und Neckereien, wie er sie vor einem halben
Jahrhundert mit Lili Schönemann geübt. Noch schwankt unsicher die Wahl dem Weiblichen zu: erst ist es die schöne Polin,
dann aber die neunzehnjährige Ulrike von Levetzow, der sein genesenes Gefühl entgegenschlägt. Vor fünfzehn Jahren hat
er ihre Mutter geliebt und verehrt, und vor einem Jahre noch »das Töchterlein« bloß väterlich geneckt, nun aber wächst
Neigung jäh zur Leidenschaft, nun eine andere Krankheit, sein ganzes Wesen ergreifend, tiefer ihn aufrüttelnd in der
vulkanischen Welt des Gefühls als seit Jahren ein Erlebnis. Wie ein Knabe schwärmt der Vierundsiebzigjährige: kaum daß
er die lachende Stimme auf der Promenade hört, läßt er die Arbeit und eilt ohne Hut und Stock zu dem heiteren Kinde hinab.
Aber er wirbt auch wie ein Jüngling, wie ein Mann: das groteskeste Schauspiel, leicht satyrhaft im Tragischen, tut sich
auf. Nachdem er mit dem Arzt geheim beraten, offenbart Goethe sich dem ältesten seiner Gefährten, dem Großherzog,
mit der Bitte, er möchte für ihn bei Frau Levetzow um die Hand ihrer Tochter Ulrike werben. Und der Großherzog,
gedenkend mancher tollen gemeinsamen Weibernacht vor fünfzig Jahren, vielleicht still und schadenfroh lächelnd
über den Mann, den Deutschland, den Europa als den Weisesten der Weisen, den reifsten und abgeklärtesten Geist
des Jahrhunderts verehrt – der Großherzog legt feierlich Stern und Orden an und geht für den Vierundsiebzigjährigen
die Hand des neunzehnjährigen Mädchens von ihrer Mutter erbitten. Über die Antwort ist Genaues nicht bekannt –
sie scheint abwartend, hinausschiebend gewesen zu sein. So ist Goethe Werber ohne Gewißheit, beglückt von bloß
flüchtigem Kusse, liebgemeinten Worten, indes leidenschaftlicher und leidenschaftlicher das Verlangen ihn durchwogt,
noch einmal Jugend in so zarter Gestalt zu besitzen. Noch einmal ringt der ewig Ungeduldige um höchste Gunst
des Augenblicks: treulich folgt er von Marienbad der Geliebten nach Karlsbad, auch hier nur Ungewißheit
für die Feurigkeit seines Wunsches findend, und mit dem sinkenden Sommer mehrt sich seine Qual.
Endlich naht der Abschied, nichts versprechend, weniges verheißend, und als nun der Wagen rollt, fühlt der große Ahnende,
daß ein Ungeheures in seinem Leben zu Ende ist. Aber tiefsten Schmerzes ewiger Genosse, ist in verdunkelter Stunde der
alte Tröster da: über den Leidenden neigt sich der Genius, und der im Irdischen Trost nicht findet, ruft nach dem Gott.
Noch einmal flieht, wie unzählige Male schon und nun zum letztenmal Goethe aus dem Erlebnis in die Dichtung,
und in wundersamer Dankbarkeit für diese letzte Gnade schreibt der Vierundsiebzigjährige über dies sein Gedicht
die Verse seines Tasso, die er vor vierzig Jahren gedichtet, um sie nun noch einmal staunend zu erleben:
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.
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Sinnend sitzt nun der greise Mann im fortrollenden Wagen, unmutig bewegt von der Ungewißheit innerer Fragen.
Noch war Ulrike frühmorgens mit der Schwester beim »tumultuarischen Abschied« zu ihm hingeeilt, noch hatte ihn der
jugendliche, der geliebte Mund geküßt, aber war dieser Kuß ein zärtlicher, war er ein töchterlicher? Wird sie ihn
lieben können, wird sie ihn nicht vergessen? Und der Sohn, die Schwiegertochter, die unruhig das reiche Erbe erharren,
werden sie eine Heirat dulden, die Welt, wird sie seiner nicht spotten? Wird er im nächsten Jahre ihr nicht weggealtert
sein? Und wenn er sie sieht, was darf er vom Wiedersehen erhoffen? Unruhig wogen die Fragen. Und plötzlich formt sich
eine, die wesentlichste, zur Zeile, zur Strophe – die Frage, die Not wird zum Gedicht, der Gott hat ihm gegeben,
»zu sagen, was ich leide«. Unmittelbar, nackt geradezu, stößt sich der Schrei hinein in das Gedicht, gewaltigster
Anschwung innerer Bewegung:
Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschloßner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
Wie wankelsinnig regt sich's im Gemüte!
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Und nun strömt der Schmerz in kristallene Strophen, wunderbar von der eigenen Wirrnis gereinigt. Und wie der Dichter
seines inneren Zustandes chaotische Not, die »schwüle Atmosphäre« durchirrt, hebt sich ihm zufällig der Blick.
Aus dem rollenden Wagen sieht er morgendlich still die böhmische Landschaft, göttlichen Frieden gegen seine
Unruhe gestellt, und schon fließt das eben erst geschaute Bildnis der Gegend über in sein Gedicht:
Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände,
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht? Ein grün Gelände,
Zieht sich's nicht hin am Fluß durch Busch und Matten?
Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose?
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Aber zu unbeseelt ist ihm diese Welt. In solch leidenschaftlicher Sekunde vermag er alles nur in Verbindung mit
der Gestalt der Geliebten zu begreifen, und magisch verdichtet sich die Erinnerung zu verklärender Erneuerung:
Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben,
Schwebt, seraphgleich, aus ernster Wolken Chor,
Als glich' es ihr, am blauen Äther droben
Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor!
So sahst du sie in frohem Tanze walten,
Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.
Doch nur Momente darfst dich unterwinden,
Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten;
Ins Herz zurück! Dort wirst du's besser finden,
Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten:
Zu Vielen bildet Eine sich hinüber,
So tausendfach, und immer, immer lieber.
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Kaum beschworen, bildet sich aber Ulrikens Bildnis schon sinnlich geformt. Er schildert, wie sie ihn empfing
und »stufenweis' beglückte«, wie sie nach dem letzten Kuß ihm noch den »letztesten« auf die Lippen drückte,
und in selig erinnernder Beglückung dichtet nun in erhabenster Form der alte Meister eine der reinsten
Strophen über das Gefühl der Hingabe und Liebe, die jemals die deutsche und irgendeine Sprache geschaffen:
In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißen's: fromm sein! – Solcher seligen Höhe
Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
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Aber gerade im Nachgefühl dieses seligsten Zustandes leidet der Verlassene unter der Trennung der Gegenwart,
und nun bricht ein Schmerz hervor, der die erhaben elegische Stimmung des großartigen Gedichtes fast zerreißt,
eine Offenheit des Empfindens, wie sie nur das spontane Verwandeln eines unmittelbaren Erlebnisses einmal in
Jahren verwirklicht. Erschütternd ist diese Klage:
Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute,
Was ziemt denn der? Ich wüßt' es nicht zu sagen.
Sie bietet mir zum Schönen manches Gute;
Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen.
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.
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Dann steigert sich, kaum steigerungsfähig, der letzte, furchtbarste Aufschrei:
Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen,
Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos!
Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,
Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.
Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich – und richten mich zu Grunde.
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Nie war dem sonst Verhaltenen eine ähnliche Strophe entklungen. Der sich als Jüngling zu verbergen, als Mann zu enthalten
wußte, der sonst fast immer nur in Spiegelbildern, Chiffren und Symbolen sein tiefstes Geheimnis verriet,
hier offenbart er als Greis zum erstenmal großartig frei sein Gefühl. Seit fünfzig Jahren war der fühlende Mensch,
der große lyrische Dichter in ihm vielleicht nicht lebendiger als auf diesem unvergeßlichen Blatt, an diesem
denkwürdigen Wendepunkt seines Lebens.
So geheimnisvoll, als eine seltene Gnade des Schicksals, hat auch Goethe selbst dieses Gedicht empfunden.
Kaum nach Weimar heimgekehrt, ist es sein erstes, noch ehe er sich irgendeiner anderen Arbeit oder häuslichen
Dingen zuwendet, eine kunstvolle Abschrift der Elegie eigenhändig zu kalligraphieren. Drei Tage schreibt er
auf besonders gewähltem Papier mit großen, feierlichen Lettern, wie ein Mönch in seiner Zelle, das Gedicht nieder
und birgt es selbst vor den nächsten Hausgenossen, auch vor dem vertrautesten, als Geheimnis. Selbst die
Buchbinderarbeit fertigt er, damit geschwätzige Kunde sich nicht voreilig verbreite, und befestigt das Manuskript
mit einer seidenen Schnur in einer Decke von rotem Maroquin (die er dann später durch einen blauen, wundervollen
Leinwandband ersetzen ließ, der noch heute im Goethe- und Schiller-Archiv zu sehen ist).
Die Tage sind ärgerlich und verdrießlich, sein Heiratsplan hat im Hause nur Hohn gefunden, den Sohn
sogar zu Ausbrüchen offenen Hasses verleitet; nur in den eigenen dichterischen Worten kann er bei dem
geliebten Wesen weilen."
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Siehe ausführlich
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