Es gibt viele Formen des Schreibens;
einzig aber in der literarischen geht es,
über die Registrierung der Tatsachen
und
über die Wissenschaft hinaus,
um einen Versuch der Restitution.
W. G. Sebald
Schreiben an der Grenze
Grenzüberschreitung
Erst als ich 1965 in die Schweiz
und ein Jahr darauf nach England ging,
begannen sich, aus der Entfernung heraus,
in meinem Kopf Gedanken zu bilden über mein Vaterland
und diese Gedanken haben sich,
in den mehr als dreißig Jahren,
die ich nun schon auswärts lebe,
in zunehmendem Maße kompliziert.
War Sebald ein "Grenzgänger"?
Welche Grenzen hat er passiert, infrage gestellt, niedergerissen?
Dies fragt L. L. Wolff, Germanistin an der Universität Wisconsin/Michigan
1. Der “Grenzgänger” W.G. Sebald
Obwohl zur Nachkriegsgeneration - Sebald ist Jahrgang 1944 - gehörend, beschäftigt er sich früh mit der
Nazizeit und den 'Vergangenheitsbewältigung' betreibenden Autoren, er selbst wird das fortsetzen. In Deutschland
stellt er eine "Verschwörung des Schweigens" fest, spürt die tiefe Stille um die Naziverbrechen
und eine Komplizenschaft der einfachen Leute.
In der Grundschule bekommen die Schüler eine Wochenschau mit Aufnahmen von der Befreiung des KZs Bergen-Belsen gezeigt,
Fragen sind nicht zugelassen, man diskutiert die Gräueltaten der jüngsten Vergangenheit nicht.
In den frühen 1960ern spürt er an der Universität Freiburg desillusioniert eine "Atmosphäre der Falschheit",
Professoren werden als ehemalige NSDAP-Mitglieder entlarvt, erst die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt
thematisieren die Verbrechen in den KZs, sind für ihn erste öffentliche Bestätigung dafür, dass es so etwas
wie eine ungelöste deutsche Vergangenheit geben muss.
Voller Scham über Deutschlands 'Gedächtnislosigkeit', frustriert von der 'Verschwörung des Schweigens',
nimmt Sebald mit 22 eine Hochschulstelle in England an, wo er bis zu seinem tragischen Verkehrsunfalltod 2001 bleibt.
Sebalds Entscheidung, Deutschland in den 1960er Jahren zu verlassen und sich endgültig in England niederzulassen,
ist für manchen "selbst auferlegtes" oder "freiwilliges" Exil, beide Charakterisierungen aber sind problematisch
und fragwürdig. Sebald selbst bezeichnet seine Lebensform nie als Exil, äußert sich zu seinem Befinden so:
In England nur gastweise zuhause, schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation.
In der Rede anlässlich seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie, aus der das Zitat stammt, drückt Sebald auch eine Distanz
gegegenüber seiner Heimat aus, ein Gefühl, Landesverräter oder Hochstapler zu sein, und dass er
nur von England aus, im Abstand zu Deutschland, sich wirklich eine Vorstellung von seinem Vaterland machen könne.
Sebald spricht fließend Englisch, sein Denken bleibt deutsch.
Aufgewachsen im Allgäu, betrachtet Sebald den süddeutschen Dialekt als seine Muttersprache, erzählt von seinen
ersten Anstrengungen, Hochdeutsch sprechen und schreiben zu lernen, als er sich 1963 an der Universität in Freiburg
einschreibt. Und - im Gegensatz hierzu - ist auch noch nach dreißig Jahren Englisch für ihn Fremdsprache:
I don’t in the least feel at home in it. I use it but it sounds quite alien to me. Bigsby merkt an,
Sebald - nicht unähnlich zu Joseph Conrad - habe gespürt, es sei zu spät für ihn gewesen, "to change his linguistic
coat.”
Gerhard Fischer betont, dass Sebald, obwohl den größten Teil seines Lebens in England, nur auf Deutsch geschrieben habe und
dass sein Ruhm in erster Linie auf der vollendeten Beherrschung der deutschen Sprache und ihrer literarischen Tradition
beruhe, die ziemlich einzigartig in der zeitgenössischen Literatur sei.
Fischer sieht Sebald eher als Ausgewanderten denn als im Exil, der aus dem Erinnerungspotential einer einzigen
Weltkultur schöpft, wie auch Peter Madsen beton: "The construction of national identity, however,
is in itself a mystifying (and potentially destructive) endeavour. The seemingly natural link between literature
as a linguistic art form, national language and national identity is at odds with the fact that literature
travels in translation and that all nations are heterogeneous culturally speaking. From the outset the idea of world
literature goes against the grain of nationalism."
2. Schreiben an der Grenze: Zwischen Literarurkritk und Literatur
Nach 15 Jahren England wird Sebald von der Universität Hamburg mit
habilitiert. Sebald lehrt nahezu 30 Jahre Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität von East Anglia in Norwich,
gründet 1989 und leitet das British Centre for Literary Translation. In seinen letzten Jahren
lehrt er auch Kreatives Scheiben. Sebald beginnt keine offizielle literarische Karriere vor den späten 1980ern, schreibt
aber schon als Student Gedichte und einen Roman.
Sebald im Interview mit Bigsby: I moved from the straight monograph to essayistic exploration,
dealing with my subjects in an elliptical sort of way. But even so I constantly came up against a borderline where I felt,
well, if I could go a little bit further it might get very interesting, that is, if I were allowed
to make things up.
Richard Weihe sieht im Spannungsverhältnis zwischen Gelehrtem und Schriftsteller
die wahrscheinlich produktivste Quelle von Sebalds fiktionalem Schreiben, was ihn als Schriftsteller befähigt,
Metaphern zu verwenden, Leben und Werk im Sinne des sonst verpönten Biografismus als Einheit zu verstehen, und
vor allem die Subjektivität des Schreibenden zu betonen, indem er laut und deutlich "ich" sagt.
Florian Radvan (in “W.G. Sebald - Schriftsteller und Scholar. Erinnerungen an einen Grenzgänger
zwischen Literatur und Wissenschaft”):
Als Hochschullehrer,
der auch literarisch schrieb, wäre Sebald in der deutschen Akademia wohl misstrauisch beäugt, wenn nicht belächelt
und wären seine Texte als ‘Professorenprosa’ abgetan worden.
Genau dieses Klischee des vom Literaturprofessor zum Schreiber Gewordenen ist Grund der Skepsis und sogar anfänglichen
Ablehnung der Werke Sebalds in Deutschland - ganz im Gegenteil zur weltweiten positiven Resonanz, besonders
in USA, Frankreich und vor allem England.
3. Grenzüberschreitung von und im Text: Abhandlung, Gattung, Medium
Lynn L. Wolff: "At one and the same time imaginative fictions,
biographical accounts, and autobiographical travelogues, Sebald’s texts blur not only thematic but also
generic boundaries. They draw upon a variety of disciplines and discourses, such as literature, literary
analysis, history, architecture, and archaeology, among others.
This movement across the borders of discourse, genre,
and also media inscribes itself in a complex form of layering in Sebald’s texts. It is the way in which Sebald explores
and tests the borders between different discourses that provides new ways to reconsider the contentious and productive
relationships between a number of issues and between literature and history in particular. With a vested interest in
both representing the past and problematizing such representation - traditional forms of historiography in particular - a
new form of literature-as-historiography, or “literary historiography,” as I have termed it, emerges in Sebald’s
works."
Sebald thematisiert durch Einbeziehung von Bildern, vor allem Fotografien auf komplexe Weise und gleichzeitig
literarisch widerspiegelnd den Akt des Sehens, des Erinnerns und des Wissens, wirft dabei grundlegende
Fragen zur Beziehung von Literatur zu Wahrheit und Realität, zur theoretischen und
ästhetischen Bedeutung von Fotografie im Allgemeinen und im Besonderen für seine einzigartigen eigenen
Text-Bild-Konstellationen im Hinblick auf Realismus, Authentizität, und folglich auf jede dokumenatarische
Geschichtsschreibung auf.
In Die Ringe des Saturn formuliert Sebald ausdrücklich Kiritk an historischen Darstellungen, der Icherzähler
stellt die angebliche Wahrheitserforschung infrage: schon zeigen sich in der
Historiographie die unbestreitbaren Vorteile einer fiktiven Vergangenheit.
Diese in sich widersprüchliche Formulierung soll zeigen, dass die Absicht, wahre außersprachliche Realität in der
Geschichtsschreibung zu erhalten, fiktiv ist. Die Rolle sowohl der Phantasie wie Erfindung tritt unweigerlich
in den Vordergrund, wenn der Erzähler bildliche Darstellungen großer Schlachten beschreibt und sie als reine
Fiktionen bezeichnet.
Die Kritik der historischen Darstellung, sei es in historischen Texten oder Bildern, findet sich durchgänging
in Sebalds Werken, ist thematisiert in Luftkrieg und Literatur, wo er den Leser mit Fakten und Statistiken
der historischen Aufzeichnungen der alliierten Luftangriffe auf Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs
konfrontiert - aber:
doch was all das in Wahrheit bedeutete, das wissen wir nicht.
Mit seiner Kritik der historische Darstellung enthüllt Sebald die Illusion, Wissen über
Vergangenheit könne leicht oder direkt durch Dokumente und Kontoauszüge abrufbar sein.
Ein weiterer Kritikpunkt Sebalds an historischen Darstellungen ist, wie offizielle Geschichtsschreibung
"unbedeutende" Gestalten übersieht oder darüber Stillschweigen bewahrt.
Sebald setzt seine literarischen Werke dagegen. Er bekämpft
dieses Löschen der Einzelschicksale durch Konzentration auf Auswanderer, Exilanten, Opfer der Geschichte,
verleiht seinen Bruchstück-Geschichten die Bedeutung historischer Berichte. Die Ausgewanderten
und Austerlitz veranschlaulichen diesen Prozess, Sebald vermischt Fakten und Fiktion
im Versuch, mit den problematischen Quellen der Erinnerung fertig zu werden, sei es individuell oder kollektiv,
durch Repression, Wiederherstellung und Darstellung dieser Erinnerung.
Dabei spielt das Text-Bild-Verhältnis, kontitutives Merkmal seiner Poetik, auf verschienden
Ebenen eine Rolle. Bilder durchsetzen seine Erzählungen, Reproduktionen von Gemälden, schematische Karten,
Seiten aus Zeitschriften, Tagebüchern und anderen Büchern, Familienfotos, persönliche Porträts, Fotografien
zufälliger Fundstücke oder persönlichem Besitz, von Alltäglichem bis zu Außergewöhnlichem. Im Kontrast zu diesen
persönlichen Bilder stehen Fotografien architektonischer Strukturen, Landschaften und Städten, wo Individuen
vollkommen fehlen. Sebalds komplexe Verwendung von Bildern folgt keiner durchgängigen Strategie, die Beziehung
zwischen Text und Bild ist nicht statisch sondern Veränderungen unterworfen, wir sollen mehrere Schichten der
Geschichte lesen, was somit auch mehrere Analyseebenen erfordert.
Endlich - das Modeschlagwort "Intertextualität" kommt ins Spiel. Intertextuell das Verhältnis des Bildes zur Geschichte,
extratextuell das Verhältnis der Bilder zur extratextuellen Realität und wiederum intertextuell:
Bilder und Text in Bezug auf andere Texte, seien sie literarisch oder Dokumentationen.
So wie Sebald historische Figuren neben fiktive Charaktere platziert, um den ontologischen
Status der echten zu erforschen, "his use of photographs illustrates the multiple relationships among intra-,
inter-, and extra-textual realities at play in fictional representations. Sebald’s works demonstrate
the potential of the literary discourse to not only re-present something ontologically prior to the text
but to also present something new that comes into being only with(in) the text. While making us reconsider
the border that delineates the world of creation within the text from the world of reference outside of the
text, Sebald’s fictional prose ultimately works against such clear distinctions."
Die Herausforderung der Vereinigung von Fotografie mit Text erzeugt Realität, die Vorstellung
der Fotografie ist visuelle Gedächtnisstütze, so aktivieren die Bilder in Sebalds Text die Vorstellung
sowohl vom Charakter des Erzählten als auch in der Phantasie des Lesers. Ein Foto
ist niemals neutral, denn es ist implizit Interpretation im Akt des Einsatzes der Fotografie.
Je mehr Austerlitz selbst Fotografien und Filme untersucht, desto mehr verdunkelt sich seine
Vorstellung und um so weiter weg fühlt er sich vom Berichteten. Offenbart Sebald so durch den
Schwerpunkt auf individuelle Erfahrung, Erinnerung und Phantasie die Möglichkeit, in der Fiktion
die deutsche Geschichte und den Holocaust umzuschreiben?
4. Ausdehnung der Bewusstseinsgrenzen durch Weltliteratur
Sebald ist ein Autor, der kosmopolitisches Bewusstsein darstellt, das die Besonderheit der Nation nicht
ablehnt. Übersetzung nationaler Anliegen und gleichzeitig Betonung einiger sehr spezifischer Anliegen
der deutschen Geschichte geben Sebalds Werken aber die innere Spannung, eine Spannung zwischen
Globalem und Lokalem, das diese Werke als Weltliteratur auszeichnet. Sebalds Status als "Holocaust"-Autor ist
heftig umstritten, dennoch haben diese Gräuel zentrale Bedeutung, aber eben
über den Holocaust hinaus, seien es die Schilderungen der brutalen belgischen Kongo-Kolonialisierung,
die kapitalistische Ausbeutung der Amazonaswälder oder die Massaker der napoleonischen Feldzüge. Und die Traumata
sind nicht auf menschliche Erfahrungen beschränkt. Dem Schmerz und Leiden der Tiere und Insekten widmet Sebald
seine Aufmerksamkeit ebenso wie der Zerstörung der Natur im Ganzen. Er hält nichts vom Privileg
des Mensch über anderen Lebensformen.
Dr. Martha Egger-Feichtinger, Ärztin in Wertach
Sebald-Kennerin und Fan. Sie versteht, warum Sebald Mitte der 60er Jahre die Heimat verlässt.
Auch sie ist für eine Weile aus ihrem Dorf weggezogen, bis sie es
vermisst: die Sprache, die Mentalität.
Als sie W. G. Sebald persönlich erlebt, weiß sie: das ist einfach ein Allgäuer, auf und ab.
Als dritte Bürgermeisterin hat sie die spontane Idee
zum "Sebald-Weg"
Obgleich ich während meines mehrtägigen Aufenthalts in Kissingen und in dem von seinem einstmaligen Charakter
nicht mehr das geringste verratenden Steinach zur Genüge beschäftigt gewesen bin mit meinen Nachforschungen
und meiner wie immer mühevoll vorangehenden Schreibarbeit spürte ich doch in zunehmenden Maß, dass die rings
mich umgebende Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen, das Geschick, mit dem man alles
bereinigt hatte, mir Kopf und Nerven anzugreifen begann.