Karl May


Bei Lichte betrachtet,
erschreibt und inszeniert sich hier ein Mensch,
der aus jämmerlichen Verhältnissen stammt
und dem im Leben
zunächst vieles danebengegangen ist,
eine Traumexistenz,
mit der alles zum Besseren hin korrigiert wird.



Lügenbaron, Phantast, Humanist, Utopist, verkappter Schwuler



"Ich", Mays Autobiografie erscheint 1910, zwei Jahre vor seinem Tod. Vorbild Goethe: Dichtung und Wahrheit. May rechtfertigt sein Schriftstellerleben, indem er es logisch und schön schreibt. Er gibt ihm damit einen Sinn, den es nie hatte.
Welt klein: Villa an der Elbe, Schreibtisch, Orientteppiche, Bärentöter und Silberbüchse an den Wänden, Globus und ein ausgestopfter Löwe.
Welt groß: Hadschi Halef Omar, Winnetou, sächsische Polizei, Orient, Wilder Westen, Kaiserdeutschland vor dem Ersten Weltkrieg.

Heute: Naher Osten, Türkei - Wildes Kurdistan
Damals: Das deutsche Feuilleton greift an, May ein geborener Verbrecher, weil er behauptet: Ich bin Old Shatterhand! Diese Literatur sei der deutschen Jugend nicht zuzumuten.

May in seinem Schreibzimmer als Old Shatterhand kostümiert, Fotos für die Fangemeinde, den Bärentöter kann er kaum halten.

Was wissen wir über Karl May?

200 Millionen verkaufte Bücher, der Film "Der Schuh des Manitu": Parodie gefragter als das Original? Meistgelesener Schriftsteller deutscher Sprache, der am häufigsten übersetzte deutsche Schriftsteller (in 46 Fremdsprachen).
Sitzt jahrelang im Knast. Mehr als 100 Prozesse führt er in den letzten Lebensjahren.
Zwei Ehefrauen. Behauptet, 1200 Sprachen zu können - in einem Atemzug mit Richard Wagner zu nennen?

Er lebt in Zeiten des Turbokapitalismus, TBC, feuchte Wohnungen und 18-Stunden-Arbeitstag an der Tagesordnung. May stellt sich dem Kolonialismus entgegen, dem Abschlachten ganzer Völker (wie dem der Hereros in Namibia).
"Shakespeare gab es nicht. Ich bin Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand. Das kann man nachlesen. Doch der gewaltigste Dichter ist das Leben selbst", sagt der Sachse selbstbewusst.

Karl May, geboren 1842 in Ernstthal, gestorben 1912 in Radebeul.
Das 5. von 14 Kindern einer sehr armen Weberfamilie, von denen 9 in ihren ersten Lebensmonaten sterben. Der ehrgeizige Vater Heinrich August May will seinem einzig überlebenden Sohn Karl bessere Chancen verschaffen, als er selbst hatte; er zwingt den Jungen, ganze Bücher abzuschreiben und zum Selbststudium wissenschaftlicher Werke. Ab 1856 studiert May als Proseminarist am Lehrerseminar in Waldenburg, wo man ihn 1860 wegen Unterschlagung von sechs Kerzen hinauswirft, auf dem Gnadenweg Möglichkeit zum Weiterstudium in Plauen.

Ab 1861 Lehrer, u.a. an einer Fabrikschule in Altchemnitz. Laufbahn bereits nach wenigen Wochen beendet, als ihn sein Zimmergenosse wegen widerrechtlicher Benutzung fremder Sachen anzeigt: May hat dessen Taschenuhr zwar mit Erlaubnis im Unterricht benutzt, aber ohne Absprache mit in die Weihnachtsferien genommen, 6 Wochen Haft, als Vorbestrafter gestrichen aus der Liste der Lehramtskandidaten ...
2 Jahre Privatunterricht, komponiert und deklamiert. Ab 1864 Gaunereien zur Sicherung des Lebensunterhalts. Steckbrief wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei. 1865 4 Jahre Arbeitshaus, wegen guter Führung "besonderer Schreiber" des Gefängnisinspektors. Anlage einer Liste mit über 100 Titeln und Sujets für Schriftstellerkarriere. Nach Entlassung wieder Betrügereien und Diebstähle, Festnahme 1869, Flucht.
1870 Festnahme in Böhmen wegen Landstreicherei. Nennt falschen Namen, er komme von der Insel Martinique, sei Sohn eines reichen Plantagenbesitzers, habe seine Personalpapiere auf seiner Reise nach Europa verloren. Nach Identitätsfeststellung 1870 bis 1874 Zuchthaus Waldheim. Angeblich innere Wandlung, befördert durch Anstaltskatechet.
1874 Rückkehr ins Elternhaus, beginnt zu schreiben. 1874 oder 1875 erste Veröffentlichung.

Redakteur im Dresdner Verlag Münchmeyer, ab 1878 freier Schriftsteller, zieht mit Freundin Emma Pollmer nach Dresden.
1879 in Stollberg wegen Amtsanmaßung zu drei Wochen Arrest verurteilt: Bei Untersuchung der Todesumstände des trunksüchtigen Onkels von Emma als Beamter ausgegeben.
Mit der 1892 begonnenen Reihe 'Carl May’s Gesammelte Reiseromane' finanzielle Sicherheit und Ruhm.
Er versteigt sich mehr und mehr in die „Old-Shatterhand-Legende“. Behauptet, selbst Old Shatterhand zu sein und die Inhalte der Erzählungen tatsächlich erlebt zu haben, lässt sich von örtlichem Büchsenmacher die legendären Gewehre seiner Romanhelden anfertigen: Bärentöter, Silberbüchse und Henrystutzen. Verleger und Redakteure unterstützen die Legende, Leser folgen der Gleichsetzung von Icherzähler und Protagonist bereitwillig, richten unzählige Briefe an ihn, die er großteils beantwortet. Lesereisen, Vorträge.
Ab 1896 lässt sich May im Allgemeinen deutschen Litteratur-Kalender als Übersetzer aus dem Arabischen, Türkischen, Persischen, Kurdischen und verschiedenen Indianerdialekten, später auch aus dem Chinesischen anführen.
1895 Umzug in Villa Shatterhand in Alt-Radebeul (heute Karl-May-Museum).
Erklärt 1897 öffentlich, 1.200 Sprachen und Dialekte zu beherrschen, sei als Nachfolger Winnetous Befehlshaber über 35.000 Apachen. Führt Doktorgrad, ohne je promoviert oder auch nur eine Universität besucht zu haben.

1899 und 1900 bereist May den Orient - unterwegs zweimal Nervenzusammenbruch, Frau befürchtet, ihn einer Irrenanstalt zuführen zu müssen. Einbruch der grellen Realität in Mays Traumwelt?
Ab 1899 heftige Angriffe auf May in der Presse: Old-Shatterhand-Legende, religiöse Heuchelei, Unsittlichkeit, Vorstrafen ...
Diverse Gerichtsverfahren wegen unerlaubter Buchveröffentlichungen bis zu seinem Tod.
Erste Ehe mit


Emma Pollmer - Scheidung 1903

März 1903 Heirat mit


verwitweter Klara Plöhn.


1908 6-wöchige Amerikareise. Ab 1910 Plagiatsvorwürfe, gegen die May gerichtlich vorgeht. Vortragsreisen durch Deutschland und Österreich.
Beginn literarischeren Schreibens. Sein bisheriges Werk nennt er nachträglich 'Vorbereitung'. Verfasst komplexe allegorische Texte, will Menschheitsfragen (Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?) lösen, wird Pazifist.

Künstlerfreundschaft zu Sascha Schneider: Neue symbolistische Deckelbilder.
Kurz vor Tod: In Wien jubelnde Anerkennung 22. März 1912 für pazifistischen Vortrag "Empor ins Reich der Edelmenschen" auf Einladung der ersten Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner.




Arno Schmidt vertritt in Sitara und der Weg dorthin von 1963 die These einer latenten Homosexulität Mays. Er verweist auf die penetrante Waffensymbolik, die Vorliebe für sadistische Szenen, auf die erotisch-liebevolle Darstellung der indianischen Edelmenschen, auf die Schilderung der nächtlichen oder gemeinsamen Ritte sowie auf die wiederholt auftretenden Transvestiten (Tante Droll, Hobble Frank oder Langer Davy). Die stetes wiederkehrenden Ringkämpfe zwischen den Männern seien verkappte Geschlechtsakte. Schmidt hebt die erotischen und phallischen Motive auf den Bildern Sascha Schneiders hervor, umso erstaunlicher, als Schneider seinen Freund May über seine homosexuelle Orientierung nicht im Unklaren gelassen habe.

Eine digitale Volltext-Ausgabe der Werke Karl Mays in der der Directmedia Publishing liegt seit 2004 vor.







Winnetous Blutsbruder - Rassist?

Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen,
so antwortete man ihm mit Pulver und Blei,
und er musste den überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen.
Darüber erbittert,
rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte,
welches ihm begegnete,
und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres,
welche unter den Roten angerichtet wurden.



Ein Verlag zieht sein Buch über Winnetou aus dern Verkehr - die Darstellung der indigenen Menschen sei rassistisch. Wirklich?
Das Buch steht im Zusammenhang mit dem Film ,,Der junge Häuptling Winnetou“, der in den Kinos lauft.

Auch über dieses Werk gehen die Meinungen auseinander. Hauptkritikpunkt: Die historischen Tatsachen, vor allem die Einordung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung der USA, würden romantisiert.
In einer Erklärung des Verlags heißt es, man wolle ,,keine verharmlosenden Klischees wiederholen und verbreiten, auch wenn wir den Grundgedanken der Freundschaft - wie bei Winnetou vorhanden - hoch schätzen.“ In dem Streit geht es um Artikel für Kinder, nicht direkt um die Winnetou-Romane von Karl May (1842 - 1912), der mit seinen Abenteuerbüchern zu einem der am weitesten verbreiteten Schriftsteller deutscher Sprache wurde. Und doch steht Karl May posthum am Pranger. Ein Präzedenzfall.
Die Einlassung des Ravensburger Verlags zeigt, dass sie dort wenig über den Erfinder von Winnetou wissen und historisch blind sind. Es lohnt der Blick in das Leben dieses Mannes, der alles Mogliche war: ein Fantast und genialer Schwindler, ein unfassbar produktiver Autor und seinerzeit wie ein Popstar gefeiert. Karl May predigte Volkerverständigung und Pazifismus. Ihn pauschal zu verdammen heißt, sich selbst ins Knie zu ballern.

Als 1871 in Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wird, sitzt Karl May wegen wiederholter kleiner Betrügereien im Gefängnis. Erst drei Jahre später kommt er frei, mit 32 Iahren. Deutschland erlebt in der wilhelminischen Epoche eine stürmische Entwicklung. Nach der Jahrhundertwende treibt die militärische Aufrüstung die Konjunktur an. Deutschland wird größte Industrienation Europas, mit 15 % der Weltproduktion. Nur die USA sind stärker. Und dann will das Deutsche Reich mit mörderischer Geschwindigkeit auch noch den Vorsprung der anderen europäischen Mächte in Übersee aufholen.
Kolonien müssen her. Ab I884 errichten die Deutschen ihr Schreckensregiment in Südwestafrika, Togo und Kamerun. 1885 wird Ostafrika kassiert und Neu-Guinea. Kiautschou in China folgt 1897, wenig später Samoa in der Süddsee.

Vor diesern Hintergrund feiert der Erzähler Karl May seine märchenhaften Erfolge. Er muss feststellen, dass der technisthe Fortschritt die Menschheit zwar äußerlich zivilisiert, aber zugleich fordert die Zivilisation einen brutal hohen Preis, den in Nordamerika die Ureinwohner bezahlen. In der Einleitung zu ,,Winnetou I“ (1893) heißt es: ,,Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er musste den überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden.“
Klare Sache: Die Sprache ist veraltet, so schreibt heute kein halbwegs sensibler Mensch mehr, und es fehlt nicht an Klischees, die inzwischen auf dem Index stehen, aber auch in einem historischen Zusammenhang. Es gibt auch solche Sätze: ,,Die wilden Mustangherden, aus deren Mitte er sich einst kühn sein Reitpferd holte, wo sind sie hingekomrnen? Wo sieht rnan die Büffel, welche ihn ernährten, als sie zu Millionen die Prärien bevölkerten? Wovon lebt er heute?“

Drastisch schildert Karl May immer wieder das Elend der Indigenen, das die weißen Siedler, die Entwickler und Politiker in Washington zu verantworten haben. Da wird nichts geschönt, nichts verschwiegen. Man muss sich nur die Mühe machen, seine etwas gewundenen Texte zu lesen. May klagt an, in einer Sprache, die uns heute fremd und anmaßend erscheinen mag. Kulturelle Aneignung ist im 19. Jahrhundert eine gängige Praxis, in der Oper, in der Malerei, in der Literatur, das verbindet sich häufig mit antiquierten Frauenbildern - so sehen wir es heute, und das ist gut so. Aber warum sollte man sich eines Schriftstellers entledigen, der den deutschen Militarismus und Kolonialismus attackierte?

Die wilhelminische Epoche lebt von der Selbstüberhebung, von der Vorstellung einer Nation, die rasend wächst und expandiert -und sich berauscht an sich selbst. Das weist schon den Weg in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, den dann so viele Künstler und Intellektuelle anfangs begrüßten.
Der Begriff ,,kulturelle Aneignung“ stammt aus den Cultural Studies der 1970er- und 1980er-Jahre. Im engeren Sinn bezeichnet er die Übemahme von Elementen einer Minderheitskultur oder den Ausdrucksfonnen einer benachteiligten, diskríminierten Gruppe durch Angehörige einer dominanteren Kultur - ohne das Einverständnis der Minderheit.
Karl May träumt davon, mit seinem unorthodoxen, buddhistisch angehauchten Christentum Kulturen und Religionen auszusöhnen, die Welt zu befrieden. Trotz aller Abenteuer und Action: Karl May ist ein radikaler Pazifist. Bei ihm werden Gefangene gemacht. Seine .Waffe ist das Wort, damit überwältigt er den Gegner letzten Endes. Die berühmten Gewehre - Silberbüchse, Henrystutzen, Bärentöter - schießen bloß auf dem Papier. Eine hübsche Anekdote: Sie wurden von einem sächsischen Büchsenmacher für Karl May hergestellt, nach der Veröffentlichung der Bücher.

Um die Iahrhundertwende erscheint sein Roman „Und Friede auf Erden“. Der Titel ist Programm. Seine erste große Auslandsreise hat ihn 1899/1900 bis nach Ceylon und Sumatra geführt. Er wettert gegen den europäischen Imperialismus und Rassismus und feiert sich für seine Haltung. Nun wird er offen politisch, greift die deutsche Kolonialpolitik, die westliche Zivilisation schlechthin an. Diese Seite des Fantasieriesen von Radebeul ist wenig bekannt.
Einem chinesischen Freund legt er eine flammende Rede in den Mund. Man habe die Christen willkommen geheißen. „Wie aber dankten sie uns? Heute hatten wir sie bei uns aufgenommen, und schon morgen griffen sie gierig in unsere Herzen, um sich nicht nur in unserm Lande und in unsern Städten, sondern auch in unserm Himmel einzunisten.“ Das geht über Seiten weiter. Die „so laut ausposaunte Humanität der Europäer“ sei nichts als „verkappter Egoismus“. Die Christen treten als mörderische, ignorante Missionare auf, denn sie haben die Friedensbotschaft ihrer eigenen Religion nicht begriffen, sie wissen nicht, was Liebe ist.

Doch noch einmal zurück in den verwilderten Westen, so wie sich Karl May das weite Land in seiner sächsischen Heimat ausmalte. Old Shatterhand, der deutsche Auswanderer, stellt sich auf die Seite der indigenen Bevölkerung. Für ihre Zukunft will er kämpfen, ihre Kultur verteidigen, wie er sie verstand. Shatterhand ist, wie Kara Ben Nemsi im Osten, Karl Mays Alter Ego, sein Nom de Guerre. Shatterhand arbeitet als Landvermesser - wie jener K. in Kafkas.Roman „Das Schloss“.
Viele träumten damals von der Neuen Welt. 1913 veröffentlichte Kafka das kurze Prosastück „Wunsch, Indianer zu werden“. Sein „Amerika“-Roman bleibt unvollendet, man kann ihn als Hommage an Karl May interpretieren. Dann jetzt also auch Franz Kafka canceln?

Karl May, der gern Gott spielte, lässt Winnetou für sein Volk sterben, für seinen weißen Freund. In seinen letzten Momenten hört Winnetou das von seinem Blutsbruder Old -Shatterhand gedichtete „Ave Maria“, dann haucht er mit einem überraschenden Glaubensbekenntnis sein irdisches Leben aus: „Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“
Das ist starker Tobak, im Grunde ungenießbar. Als der Franzose Pierre Brice als Winnetou im Kino starb, flossen die Tränen ohne Unterlass. Fairerweise muss man aber auch sagen: Als Karl May 19o8 dann endlich nach Nordamerika reist und ein Reservat der Tuscarora besucht, ist er tief erschüttert. Seine Helden leben in Armut und Depression, bestohlen, weggesperrt, ohne Rechte. In jener Zeit wird man lange nach einem Schriftsteller suchen, der so viel Empathie besaß. Das macht Karl May tatsächlich zum Exoten.

Text Rüdiger Schaper, von dem die Biografie Karl Mays stammt