Lügenbaron, Phantast, Humanist, Utopist, verkappter Schwuler
May in seinem Schreibzimmer als Old Shatterhand kostümiert, Fotos für die Fangemeinde, den Bärentöter kann er kaum halten.
Er lebt in Zeiten des Turbokapitalismus, TBC, feuchte Wohnungen und 18-Stunden-Arbeitstag an der Tagesordnung.
May stellt sich dem Kolonialismus entgegen, dem Abschlachten ganzer Völker (wie dem der Hereros in Namibia).
Ab 1861 Lehrer, u.a. an einer Fabrikschule in Altchemnitz. Laufbahn bereits nach wenigen Wochen beendet, als ihn sein Zimmergenosse
wegen widerrechtlicher Benutzung fremder Sachen anzeigt: May hat dessen Taschenuhr zwar mit Erlaubnis im Unterricht benutzt,
aber ohne Absprache mit in die Weihnachtsferien genommen, 6 Wochen Haft, als Vorbestrafter gestrichen aus der Liste der
Lehramtskandidaten ...
Redakteur im Dresdner Verlag Münchmeyer, ab 1878 freier Schriftsteller, zieht mit Freundin Emma Pollmer nach Dresden.
1899 und 1900 bereist May den Orient - unterwegs zweimal Nervenzusammenbruch, Frau befürchtet, ihn einer Irrenanstalt
zuführen zu müssen. Einbruch der grellen Realität in Mays Traumwelt?
Emma Pollmer - Scheidung 1903 März 1903 Heirat mit verwitweter Klara Plöhn.
Künstlerfreundschaft zu Sascha Schneider: Neue symbolistische Deckelbilder.
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Arno Schmidt vertritt in Sitara und der Weg dorthin von 1963 die These einer latenten Homosexulität Mays. Er verweist auf die penetrante Waffensymbolik, die Vorliebe für sadistische Szenen, auf die erotisch-liebevolle Darstellung der indianischen Edelmenschen, auf die Schilderung der nächtlichen oder gemeinsamen Ritte sowie auf die wiederholt auftretenden Transvestiten (Tante Droll, Hobble Frank oder Langer Davy). Die stetes wiederkehrenden Ringkämpfe zwischen den Männern seien verkappte Geschlechtsakte. Schmidt hebt die erotischen und phallischen Motive auf den Bildern Sascha Schneiders hervor, umso erstaunlicher, als Schneider seinen Freund May über seine homosexuelle Orientierung nicht im Unklaren gelassen habe. Eine digitale Volltext-Ausgabe der Werke Karl Mays in der der Directmedia Publishing liegt seit 2004 vor. |
Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen,
Ein Verlag zieht sein Buch über Winnetou aus dern Verkehr - die Darstellung der indigenen Menschen sei rassistisch.
Wirklich?
Auch über dieses Werk gehen die Meinungen auseinander. Hauptkritikpunkt: Die historischen Tatsachen, vor allem die Einordung und
Unterdrückung der indigenen Bevölkerung der USA, würden romantisiert.
Als 1871 in Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wird, sitzt Karl May wegen wiederholter kleiner Betrügereien im Gefängnis.
Erst drei Jahre später kommt er frei, mit 32 Iahren. Deutschland erlebt in der wilhelminischen Epoche eine stürmische Entwicklung. Nach der
Jahrhundertwende treibt die militärische Aufrüstung die Konjunktur an. Deutschland wird größte Industrienation Europas, mit 15 % der Weltproduktion.
Nur die USA sind stärker. Und dann will das Deutsche Reich mit mörderischer Geschwindigkeit auch noch den Vorsprung der anderen europäischen
Mächte in Übersee aufholen.
Vor diesern Hintergrund feiert der Erzähler Karl May seine märchenhaften Erfolge. Er muss feststellen, dass der technisthe Fortschritt
die Menschheit zwar äußerlich zivilisiert, aber zugleich fordert die Zivilisation einen brutal hohen Preis, den in Nordamerika die Ureinwohner bezahlen.
In der Einleitung zu ,,Winnetou I“ (1893) heißt es: ,,Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver und Blei, und er musste den
überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren
dann stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden.“
Drastisch schildert Karl May immer wieder das Elend der Indigenen, das die weißen Siedler, die Entwickler und Politiker in Washington zu verantworten haben. Da wird nichts geschönt, nichts verschwiegen. Man muss sich nur die Mühe machen, seine etwas gewundenen Texte zu lesen. May klagt an, in einer Sprache, die uns heute fremd und anmaßend erscheinen mag. Kulturelle Aneignung ist im 19. Jahrhundert eine gängige Praxis, in der Oper, in der Malerei, in der Literatur, das verbindet sich häufig mit antiquierten Frauenbildern - so sehen wir es heute, und das ist gut so. Aber warum sollte man sich eines Schriftstellers entledigen, der den deutschen Militarismus und Kolonialismus attackierte?
Die wilhelminische Epoche lebt von der Selbstüberhebung, von der Vorstellung einer Nation, die rasend wächst und expandiert -und sich berauscht an sich selbst.
Das weist schon den Weg in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, den dann so viele Künstler und Intellektuelle anfangs begrüßten.
Um die Iahrhundertwende erscheint sein Roman „Und Friede auf Erden“. Der Titel ist Programm. Seine erste große Auslandsreise hat ihn
1899/1900 bis nach Ceylon und Sumatra geführt. Er wettert gegen den europäischen Imperialismus und Rassismus und feiert sich für seine
Haltung. Nun wird er offen politisch, greift die deutsche Kolonialpolitik, die westliche Zivilisation schlechthin an. Diese Seite des Fantasieriesen von Radebeul ist wenig
bekannt.
Doch noch einmal zurück in den verwilderten Westen, so wie sich Karl May das weite Land in seiner sächsischen Heimat ausmalte. Old Shatterhand, der deutsche
Auswanderer, stellt sich auf die Seite der indigenen Bevölkerung. Für ihre Zukunft will er kämpfen, ihre Kultur verteidigen, wie er sie verstand. Shatterhand ist, wie Kara Ben Nemsi
im Osten, Karl Mays Alter Ego, sein Nom de Guerre. Shatterhand arbeitet als Landvermesser - wie jener K. in Kafkas.Roman „Das Schloss“.
Karl May, der gern Gott spielte, lässt Winnetou für sein Volk sterben, für seinen weißen Freund. In seinen letzten Momenten hört Winnetou das von seinem Blutsbruder
Old -Shatterhand gedichtete „Ave Maria“, dann haucht er mit einem überraschenden Glaubensbekenntnis sein irdisches Leben aus: „Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“
Text Rüdiger Schaper, von dem die Biografie Karl Mays stammt
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