S A N T O R I N
Wer unterhalb der auf der Kante des Kraterrands sitzenden Orte in die Caldera einläuft, spürt es sofort -
und der atemberaubende Blick in den Abgrund später bestätigt es:
Hier hat es nicht immer so ausgesehen. Ein rieisger Vulkanausbruch zuerstört vor gut dreieinhalbtausend Jahren
ein blühendes Gemeinwesen...
Andere tanzen, wir segeln auf einem Vulkan.
Aus dem tiefblauen Meer steigen unvermittelt 300m hohe Kraterwände an, hoch oben schneeweiße
Häuserreihen an den brandroten Kämmen...
Tiefschwarzes Lavagestein, ockerbraune Bimssteinadern,
üppige Weinreben auf schwerem Boden, das leuchtende Blau der Kirchenkuppeln,
eine alpine Drahtseilbahn, Esel auf Pflasterstein-Serpentinen...
Santorin ist eine Orgie für die Sinne, ein Farbenrausch.
Eine der größten Naturkatastrophen der Menschheit fand hier statt.
1640 vor Christus sprengen die Götter Santorin in die Luft. Erdbeben, Flutwellen furchtbare Zerstörungen im
gesamten Mittelmeer.
Die Welt der Minoer im Untergang.
Akrotiri - ein reicher blühender Hafen auf Santorin vollständig verschüttet - und wieder ausgegraben.
Und hier liegt Atlantis.
Jüngste Forschungsergebnisse machen es immer wahrscheinlicher:
Historischer Kern des Untergangs von Santorin ist der Mythos von Atlantis.
Platon (427-347 v. Chr.) erzählt, was 200 Jahre vor seiner Zeit
ägyptische Priester über die Insel Atlantis berichten:
Vor Jahrtausenden hatten die Atlanter ein Inselreich westlich
Gibraltars begründet. Sie herrschten über die
Nachbarländer in Europa und Afrika. Der Philosoph
beschreibt ihre ringförmig angelegte Hauptstadt mit Palästen und Kanälen:
Doch ihre Bewohner frevelten gegen die Götter.
Und die Götter vernichten das Reich innerhalb
eines Tages; Atlantis versinkt.
Platon wollte seine Zeitgenossen im mächtigen Athen vor Größenwahn warnen, man tut seinen
Bericht als Allegorie ab. Aber schon Ende des 19. Jahrhunderts halten Vulkanologen
den Text für den Beweis, dass der Mythos vom Untergang von Atlantis mit dem bronzezeitlichen
Vulkan von Santorin zusammenhängt. Hitzige Debatten unter den Gelehrten.
Ihr Höhepunkt: Der griechische Archäologe Spyridon Marinatos veröffentlicht
1950 »The Legend of Atlantis«: Auch er hält den Vulkanausbruch für die Grundlage
der Atlantisliteratur, meint aber, die antiken Autoren hätten bei der Schilderung
der sagenhaften, versunkenen Kultur maßlos übertrieben.
Der historische Kern des Mythos sei aber der Untergang der Minoer.
Beweise über Beweise...
Rundum im Mittelmeer Beweise für Tsunamis und Verheerungen aus eben derselben Zeit.
Und die naturwissenschaftlichen Beweise?
Im grönländischen Eis findet man Säuren, chemische Verbindungen,
die bei einem bronzezeitlichen Vulkanausbruch in die Atmosphäre gelangt sind.
Da die Niederschläge im Polareis tiefgekühlt und ordentlich gestapelt aufeinander liegen,
kann man das Alter einer Schicht relativ einfach ermitteln:
Die oberste Lage stammt aus dem letzen Winter, und darunter ist jede Schicht ein Jahr älter.
Man datiert die säurehaltigen Eiskristalle: Sie stammen aus
Niederschlägen, die etwa 1640 v. Chr. abgelagert wurden.
Zu dieser Zeit muss irgendwo auf der Nordhalbkugel ein Vulkan ausgebrochen sein;
kommt die Schwefelsäure, die seit gut 3.600 Jahren im Eis schlummert, aus Santorin?
Holzreste aus Akrotiri ergeben: mit der Radiokarbonmethode
in Speziallabors datieren Wissenschaftler ihr Alter im Mittel auf 1640 v. Chr.
Fazit: Der Vulkan, dessen Spuren im grönländischen Eis liegen, ist der von Santorin.
Die Bimssteinschichten, die die Geologen auf Kreta, Zypern und im Nildelta finden,
deuten darauf hin, dass nach dem Ausbruch auf Santorin Flutwellen
weite Teile des Mittelmeers durchquerten. Tsunamis hinterlassen jedoch keine bleibenden Spuren,
verursachen aber dramatische Schäden.
Und so war es:
Die Erde erzittert. Der Himmel verdüstert sich.
Beißender Schwefelgeruch liegt in der Luft. Es regnet Asche.
Menschen rennen aus ihren Häusern und blicken mit vor Entsetzen
geweiteten Augen hinaus aufs Meer. Am Horizont steigt eine schwarze Wolke empor.
Welche Götter können solches Unheil senden?
Auf den Gesichtern der Flüchtlinge, die erst unlängst mit ihren Booten
die rettende Küste Kretas erreicht haben, steht blankes Entsetzen:
Genau dort, wo der schwarze Rauch aus dem Meer steigt, liegt ihre Heimat,
die Insel Kallisti. Sie war die schönste aller Ägäis-Inseln:
ein ringförmiges, fruchtbares Eiland, das ein kreisrundes Meeresbecken
umschloss. Im Zentrum dieses natürlichen Hafens lag eine kleine Insel,
auf der heiße Quellen entsprangen - der Sitz der Götter.
Wie ist es möglich, dass sich dieses Paradies über Nacht in ein brennendes Inferno verwandeln
konnte?
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Trauma der Welt
»Die Bewohner der Region wussten nicht, dass sie auf einem Vulkan lebten«,
erklärt der US-Geologe Floyd McCoy.
Mit Experten aus der ganzen Welt hat er den bronzezeitlichen Ausbruch des Vulkans rekonstruiert: Die etwa 60sm nördlich von Kreta
gelegene Kykladeninsel Kallisti (heute Santorin oder Thira) verwandelt sich innerhalb kurzer Zeit in einen Feuer speienden Berg.
Eine Aschewolke steigt 40 km hoch in den Himmel. Aus der Höhe der Eruptionssäule, der Menge der
ausgeworfenen Gesteine und anderen Beobachtungen berechnen die Forscher die Explosivität eines Vulkans,
den »Volcanic Explosivity Index«.
Dieser VEI-Wert kann zwischen 1 und 8 liegen, wobei 1 ein vergleichsweise harmloses vulkanisches Ereignis beschreibt und
8 einen vulkanischen Super-GAU mit globalen Auswirkungen.
Der VEI-Wert Santorins lag über 7,0.
Die Zerstörungskraft des Vulkans überstieg damit selbst die des indonesischen Krakatau, der einen Wert von 6,0 erreichte.
Krakatau scheleuderte 1883 Staub und Säuren bis in die hohen Schichten der Atmosphäre und löste an die vierzig Meter hohe Flutwellen aus,
die 36.000 Menschen töteten und das Weltklima änderte.
Der Vulkanausbruch in der Ägäis war nach McCoys Einschätzungen zehnmal verheerender. Da grenzt es an ein Wunder, dass
die Bewohner Kallistis sich retten konnten. Vielleicht hielten sie den Staub, der plötzlich durch die Luft wirbelte, sowie die ersten Beben,
die die Erde erschütterten, für eine Aufforderung der Götter, die Insel zu verlassen.
Akrotiri
Bei Ausgrabungen in Akrotiri auf Santorin finden die Archäologen zerbrochene Treppenstufen und eingestürzte Wände - typische Folgen eines
Erdbebens. Da sie jedoch weder Tote noch Wertgegenstände entdecken, vermuten die Forscher, dass die Menschen genügend Zeit hatten,
Schmuck und Münzen zu bergen, bevor sie ihre Boote bestiegen und sich in Sicherheit brachten.
Santorin ist damit der erste bekannte Fall in der Geschichte, wo Menschen spontan auf eine Katastrophen-Vorwarnung reagierten
und eine vollständige Evakuierung einleiteten.
Vieles freilich müssen sie zurücklassen: Die gestapelten und aufeinander gebundenen Betten beispielsweise, die schon für den Abtransport
bereitstanden, begräbt der Bimsstein - wie die gesamte Ortschaft.
Bereits während der ersten Stunden schleudert der Vulkan mehr als einen Kubikkilometer Material aus seinem Schlot. Der feine Staub
wirbelt bis in die hohen Schichten der Atmosphäre, verdunkelt die Sonne. Bimssteine hageln auf die Erde: Die hellen, glasigen und
luftgefüllten Lavabröckchen bedecken Wasser und Land. Nicht nur Santorin versinkt im Bimsstein.
Selbst auf Anafi,
ca. 10 sm östlich, stapeln sich zwei Meter hohe Schichten auf. Und das war nur der Anfang.
4 Phasen
1
Während die Bimssteine vom Himmel fallen, wird der Förderschlot immer größer, gleichzeitig reißt in seiner Umgebung
der Boden auf, und durch die Spalten dringt Meerwasser in den Untergrund ein.
2
Das Wasser trifft auf das mehr als 1.000° C heiße Magma, verdampft und verwandelt den Vulkan in einen Dampfkochtopf.
Das Magma wurde in kleine Bestandteile zerfetzt, die von Wasserdampfhäuten umgeben sind, es bilden sich wolkenartige
Suspensionsströme. Diese breiten sich explosionsartig aus... und fegen mit enormer Geschwindigkeit die Hänge des Vulkans hinunter.
Die Explosion reißt Lavablöcke von mehr als einem Meter aus dem Schlot heraus. Die Brocken zerschmettern in Akrotiri, 10km
vom Zentrum des Vulkans entfernt, massive Steinmauern.
3
Die dritte Phase beginnt scheinbar ruhig, doch im Untergrund bahnt sich das schreckliche Finale an: Die Magmenkammer hat sich
entleert, der Untergrund seine Stabilität verloren. Schließlich sackt die Insel mit einem gewaltigen Ruck zusammen. Zurück bleibt die
Caldera, der Einsturzkrater, der sich schlagartig mit Meerwasser füllt.
Die Bewegungen des Untergrunds lösen dabei vermutlich riesige Flutwellen aus, die Tsunamis. Am Himmel entladen sich heftige Gewitter.
4
Der heiße Wasserdampf kühlt ab, der kilometerweit in die Atmosphäre emporgewirbelt worden ist, er
kondensiert und sammelt sich zu dicken Tropfen.
Es beginnt sintflutartig zu regnen. Blitze durchzucken den Himmel. Über Akrotiri fegt eine Lawine aus Schlamm, Asche und Geröll hinweg.
Untergang der minoischen Kultur
Die Chronologie der Zerstörung, von Geologen und Archäologen erstellt, endet mit dem Untergang Kallistis. Was weiter geschah,
ist nicht eindeutig geklärt.
Mythen und Legenden, Jahrhunderte nach der Katastrophe niedergeschrieben, geben Hinweise
auf politische und soziale Veränderungen, die der Vulkanausbruch nach sich zog. Der
verheerende Ausbruch auf Santorin ist Initialzündung für einen gesellschaftspolitischen
und spirituellen Wandel. Naturkatastrophen haben neben der sofort sichtbaren zerstörerischen
Kraft langfristige soziale, ökonomische und psychologische Auswirkungen.
Ein Problem der Minoer auf Kreta könnten die Flüchtlinge gewesen sein, die von Kallisti oder
den Nachbarinseln kamen und versorgt werden mussten. Gleichzeitig veränderte die vulkanische Asche,
die bis in die Stratosphäre aufstieg, das Klima auf der Nordhalbkugel:
Sonnenlicht wird stärker absorbiert, die Temperaturen fallen. In Nordamerika und Irland entdeckten die Forscher an Baumresten,
die aus der Zeit um 1620 v. Chr. stammen, Frostschäden; in der Ägäis kam es möglicherweise zu Missernten und Hungersnöten.
Denkbar auch, dass das Volk gegen die Herrscher rebellierte.
Der Geoarchäologe Eberhard Zangger: "Die Städte und Paläste wurden vorsätzlich durch Brandstiftung vernichtet. Zum Teil wurden
die Residenzen der Anführer oder die Kultstätten selektiv zerstört."
Nach den Gründen muss man nicht lange suchen: Ein knurrender Magen macht unzufrieden. Gleichzeitig schwand das Vertrauen
in die alte Gesellschaftsordnung:
Hatten doch die Götter und die von ihnen gesandten Könige die Katastrophe nicht verhindern können. Die Menschen der Bronzezeit
sahen die Welt mit anderen Augen als wir. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass irgendetwas mächtiger war als die Götter.
Sie wussten nicht, dass Vulkanismus durch eine großräumige Dynamik im Erdinnern ausgelöst wird. Sie hatten keine Ahnung,
dass Kontinente sich bewegen und dass sich ausgerechnet unter der Ägäis die afrikanische Kontinentalplatte unter die eurasische
schob - eine Bewegung, die bis heute andauert.
Die Hitze des Erdinneren lässt das silikatreiche Krustengestein, das hier in die Tiefe gedrückt wird, schmelzen. Da diese Schmelze
leichter ist als das umgebende Material, steigt sie auf und sammelt
sich in Magmenkammern. An der Oberfläche ist von diesen Vorgängen zunächst nichts zu sehen.
Der Druck in der Kammer steigt langsam an, bis er so groß ist, dass sich die glutflüssigen
Gesteine mit unglaublicher Gewalt einen Weg freisprengen: Es bildet sich ein Krater, aus dem
Lava fließt und Bimssteine sowie feine Asche herausgeschleudert werden:
Ein neuer Vulkan wird geboren.
Vor etwa drei Millionen Jahren wuchsen dort, wo heute Santorin liegt, die ersten Berge aus dem Meer. Vor hunderttausend Jahren
hatte die Insel ihre jetzigen Ausmaße erreicht. Dieser Vulkan brach in sich zusammen, nachdem sich die Magmenkammer
entleert hatte. Übrig blieb ein
Einsturzkrater, eine Caldera, in deren Mitte sich aber schon bald wieder
ein Feuer speiender Berg erhob - der Vulkan der zweiten Generation.
Dieser erlitt dasselbe Schicksal wie sein Vorgänger: Er stürzte ein und hinterließ nur
einen schmalen Kraterrand. Dann war alles wieder ruhig.
Das ringförmige, fruchtbare Eiland erschien den ersten Siedlern, die sich um 3000 v. Chr.
in Santorin niederließen, wie ein Garten Eden. Sie nannten es Kallisti, »die Schönste«.
Dank des natürlichen Hafens im Inneren der Caldera wurde Kallisti schon bald zu einem
Handelszentrum. Zeugen davon sind die einzigartigen Fresken in den Häusern der Stadt
Akrotiri, auf denen die Bewohner und ihre Lebensgewohnheiten dargestellt sind.
Nur in einem Handelszentrum mit regem Kulturaustausch konnte derartiges Kunstschaffen entstehen.
Niemand ahnte, dass das Paradies auf einem Pulverfass errichtet war.
Als der Vulkan die Insel 1640 v. Chr. wieder einmal in ein brennendes und rauchendes
Inferno verwandelte, waren die Menschen fassungslos. Das Urvertrauen
ist durch den Vulkanausbruch erschüttert.
Für die Überlebenden gab es keine harmonische und friedfertige Natur mehr - das Böse hatte Einzug gehalten.
Die Psychologen sprechen von einem Trauma.
Und heute?
1925 bis 1928 raucht der Vulkan erneut. Die Eruptionssäule steigt 3,2 km in die Höhe. Bis in unsere Tage hält die vulkanische Tätigkeit an -
wenn auch in geringerem Umfang. Die Wissenschaftler rätseln, wann die nächste große Eruption stattfindet...
Nachtrag
Die Ereignisse in Asien, unter der Bezeichnung Tsunami Synonym für die größte Naturkatastrophe
der letzten Jahrzehnte, haben bei Griechen wieder verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche gebracht.
Bei den Erdbeben 1956 war es in der Ägäis zu 20 Meter hohen Flutwellen gekommen, die besonders auf Amorgos
und Astypalaia Schäden anrichteten. Eine Frau von Syros berichtet, es sei ihr unvergessen, als 5-jähriges Kind auf einem Baum sitzend,
die Überflutung überlebt zu haben.
Wie im indischen Ozean fehlt es im Mittelmeer bisher an Frühwarnsystemen. Und dies,
obwohl gerade der östliche Mittelmeerraum eines der tektonisch aktivsten Bereiche der Erde ist.
Und der Vulkanausbruch von Santorin und die Explosion hatten riesige Flutwellen ausgelöst.
Griechische Seismologen erheben schwere Vorwürfe: Erdbebenrisiken würden herunter gespielt, obwohl man bereits
heute in der Lage sei, die wahrscheinlichen Erdbebenereignisse samt Ausmaß für die nächsten fünf Jahre zu bestimmen.
Mit Rücksicht auf den Tourismus versuche man diese Erkenntnisse unter der Decke zu halten, obwohl man durch vorbereitende
Maßnahmen Opferzahlen solcher Naturkatastrophen drastisch verringern könnte.
PS
Aber noch eine andere Zeitbombe tickt bei Santorin:
Im April 2007 läuft "Sea Diamond" auf ein Riff, gerät in Seenot, das Schiff sinkt. Bis auf 2 Passagiere werden von den 1.600 Personen an
Bord alle gerettet.
An der Untergangsstelle herrscht eine Wassertiefe von 200m. Rund 350 Kubikmeter Öl schlummerten in den Tanks.
2013 verurteilt ein Gricht in Piräus neun Verantwortliche zu Haftstrafent, als Hauptverantwortlichen den Kapitän zu zwölf Jahren,
die Anderen, darunter ein Vertreter des Schiffseigners, zu zwei bis acht Jahren. Alle legen Berufung ein.
Vier andere Angeklagte, darunter drei Besatzungsmitglieder, werden freigesprochen.
2009 pumpt man das Öl aus dem Wrack ab.
2008 erklärt die die EU-Kommission das Wrack zu Müll. Damit können Regierung und Reederei
gemäß europäischem Umweltrecht gerichtlich belangt werden, wenn sie eine Verschmutzung mit Giftmüll weiter zulassen.
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