Die Wintersonne zeigt an,
wie bald das Licht erlischt in der Asche,
wie bald uns die Nacht umfängt.
Stunde um Stunde wird an die Rechnung gereiht.
Sogar die Zeit selber wird alt.
Pyramiden, Triumphbögen und Obelisken sind Säulen von schmelzendem Eis.
Nicht einmal diejenigen,
die einen Platz gefunden haben unter den Bildern des Himmels,
konnten auf immer ihren Ruhm sich erhalten.
Nimrod ist im Orion verloren,
Osiris im Hundsstern.
Kaum drei Eichen haben die größten Geschlechter überdauert.
Den eigenen Namen auf irgendein Werk zu setzen,
sichert niemandem das Anrecht auf Erinnerung,
denn wer weiß,
ob nicht gerade die besten spurlos verschwunden sind
Wer die Themse nach London hinaufgesegelt ist, wie wir 2007
,
der passiert so manche Brücke, die früher mal "London Bridge" hieß. An einer dieser Brücken ist Sir Thomas Browne 1605 geboren,
der - u. a. - The Garden of Cyrus schrieb.
Browne inszeniert die Spannung zwischen der komplexen Oberflächenvielfalt und der einheitlichen Quincunxstruktur
als wahrnehmungstheoretisches Rätsel, das nicht auflösbare Labyrinth of Truth.
W. G. Sebalds Verdienst ist es, ihm in Die Ringe des Saturn ein literarisches Porträt gesetzt
zu haben, das eben diesen Browneschen Blick ins undurchschaubare Ungefähre ins Zentrum rückt.
Der Garten des Cyrus
(Die Ringe des Saturn S. 19ff)
... als ich, bald nach meiner Entlassung aus dem
Krankenhaus, mit meinen Nachforschungen über
Thomas Browne begann, der im 17. Jahrhundert in
Norwich als Arzt praktiziert und eine Reihe von Schriften hinterlassen hat, denen kaum etwas Vergleichbares sich an die Seite stellen läßt.
Thomas Browne war nach seinem 1682 an seinem siebenundsiebzigsten Geburtstag erfolgten Tod in der Stadtpfarrkirche St. Peter Mancroft begraben worden, wo seine sterblichen Reste dann ruhten bis zum Jahr 1840, als der Sarg, bei den Vorbereitungen zu einer Beisetzung an nahezu derselben Stelle des Chors, beschädigt und sein Inhalt teilweise ans Licht gebracht wurde. Infolge dieses Vorfalls gelangte der Schädel Brownes und eine Locke von seinem Haupthaar in den Besitz des Arztes und Kirchenvorstehers Lubbock, der die Reliquien seinerseits testamentarisch dem Spitalmuseum vermachte, wo sie zwischen allerhand anatomischen Absonderlichkeiten unter einem eigens gefertigten Glassturz bis 1921 zu sehen waren. Erst dann nämlich war der von der Pfarrei St. Peter Mancroft wiederholt gestellten Forderung einer Rückführung des Schädels Brownes nachgegeben und, beinahe ein Vierteljahrtausend nach dem ersten Begräbnis, mit aller Feierlichkeit ein zweites anberaumt worden. Browne selbst hat in seinem berühmten, halb archäologischen, halb metaphysischen Traktat über die Praxis der Feuer- und Urnenbestattung zu der späteren Irrfahrt seines eigenen Schädels den besten Kommentar geliefert an der Stelle, wo er schreibt, aus dem Grabe gekratzt zu werden, das sei eine Tragödie und Abscheulichkeit. Aber wer, so fügt er hinzu, kennt das Schicksal seiner Gebeine und weiß, wie oft man sie beerdigen wird.
Thomas Browne ist Sohn eines Seidenhändlers. Über seine Kindheit ist wenig bekannt, und in den Beschreibungen seines Lebens gibt es auch kaum einen Aufschluß über die Art seiner an das Magisterstudium in Oxford sich anschließenden medizinischen Ausbildung. Verbürgt ist nur, daß er von seinem fünfundzwanzigsten bis zu seinem achtundzwanzigsten Jahr die in den hippokratischen Wissenschaften damals herausragenden Akademien von Montpellieer, Padua und Wien besuchte und daß er zuletzt, kurz vor seiner Rückkehr nach England, in Leiden den Grad eines Doktors der Medizin erwarb.
Vielleicht war es der weiße Dunst, von dem er in einer späteren Notiz über den am 27. November 1674 über weiten Teilen Englands und Hollands liegenden Nebel behauptet, daß er aufsteige aus der Höhle eines frisch geöffneten Körpers, während er, so Browne im selben Zug, zu unseren Lebzeiten unser Gehirn umwölke, wenn wir schlafen und träumen.
Die Unsichtbarkeit und Unfaßbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist auch für Thomas Browne, der unsere Welt nur als das Schattenbild einer anderen ansah, ein letzten Endes unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt eines Außenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten. Und um den dafür notwendigen Grad
von Erhabenheit zu erreichen, gab es für ihn nur das einzige Mittel eines gefahrvollen Höhenfluges der Sprache. Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz und die Namen aller ihm voraufgegangenen Autoritäten, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation.
Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht. Mit der größtmöglichen Deutlichkeit erblickt man die winzigsten Details.
Es ist, als schaute man zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop. Und doch, sagte Browne, ist jede Erkenntnis umgeben von einem undurchdringlichen Dunkel. Was wir wahrnehmen, sind nur vereinzelte Lichter im Abgrund des Unwissens, in dem von tiefen Schatten durchwogten Gebäude der Welt. Wir studieren die Ordnung der Dinge, aber was angelegt ist in ihr, sagt Browne, erfassen wir nicht. Darum dürfen wir unsere Philosophie bloß in kleinen Buchstaben schreiben, in den Kürzeln und Stenogrammen der vergänglichen Natur, auf denen allein der Abglanz der Ewigkeit liegt.
Dem eigenen Vorsatz getreu, verzeichnet
Browne die in der anscheinend unendlichen Vielfalt der Formen Mal für Mal wiederkehrenden Muster, beispielsweise in seiner Abhandlung
über den Garten des Cyrus dasjenige des sogenannten Quincunx,
das gebildet wird von den Eckpunkten eines regelmäßigen Vierecks und dem Punkt, an dem dessen Diagonalen sich überschneiden.
Überall an der lebendigen und toten Materie entdeckt Browne diese Struktur, in gewissen kristallinischen Formen, an
Seesternen und Seeigeln, an den Wirbelknochen der Säugetiere, am Rückgrat der Vögel und Fische, auf der Haut mehrerer
Arten von Schlangen, in den Spuren der über Kreuz sich fortbewegenden Vierfüßler, in den Konfigurationen der Körper der Raupen,
Schmetterlinge, Seidenspinner und Nachtfalter, in der Wurzel des Wasserfarns, den Samenhülsen der Sonnenblumen und Schirmpinien,
im Innern der jungen Triebe der Eichen oder der Stengel des
Schachtelhalms und in den Kunstwerken der Menschen, in den ägyptischen Pyramiden und im Mausoleum des Augustus
ebenso wie in dem mit Granatapfelbäumen und weißen Lilien nach der Richtschnur bestückten Garten des Königs Salomon.
Endlos viel ließe sich hier zusammentragen, sagt Browne, und endlos ließe sich zeigen, mit welch eleganter Hand die Natur
geometrisiert, aber - so beschließt er mit einer schönen Wendung seine Schrift - das Sternbild der Hyaden, die Quincunx
des Himmels senkt sich bereits hinter den Horizont and so it is time to close the the ports of knowledge.
We are unwilling to spin out our thoughts into the phantasmes of sleep, making cables of cobwebs and wildernesses of
handsome groves. Ganz abgesehen davon, fügt er nachdenklich noch an, daß Hippokrates in seinen Bemerkungen über die
Schlaflosigkeit so wenig gesprochen habe vom Wunder der Pflanzen, daß man sich kaum getraut, zu träumen vom Paradies ...
Auch Thomas Browne ist von der Erforschung der isomorphen Linie der Quincunx-Signatur immer wieder abgelenkt worden durch das neugierige Verfolgen singulärer Phänomene und die Arbeit an einer umfassenden Pathologie. Unter anderem soll er sich in seinem Studierzimmer lange eine Rohrdommel gehalten haben,
weil er herausfinden wollte, wie der in der ganzen Natur einmalige, den tiefsten Tönen eines Fagotts gleichende Ruf dieses
schon rein äußerlich überaus seltsamen Federtiers zustande kommt, und in seinem mit der
Ausräumung weit verbreiteter Vorurteile und Legenden befaßten Kompendium Pseudodoxia Epidemica
handelt er von allerlei teils wirklichen, teils imaginären Wesen wie dem Chamäleon, dem Salamander, dem
Vogel Strauß, dem Greif und dem Phoenix, dem Basilisk, dem Einhorn und der zweiköpfigen Schlange Amphisbaena.
Zwar widerlegt Browne die Existenz der Fabelwesen in den meisten Fällen, aber die verwunderlichen Ausgeburten,
von denen man weiß, daß es sie tatsächlich gibt, lassen es irgendwie als möglich erscheinen, daß die von uns
erfundenen Bestien nicht nur aus der Luft gegriffen sind. Jedenfalls geht aus den Beschreibungen Brownes hervor,
daß die Vorstellung von den unendlichen, über jede Vernunftgrenze sich hinwegsetzenden Mutationen der Natur
beziehungsweise die aus unserem Denken entstehenden Chimären ihn ebenso fasziniert haben wie 300 Jahre später
Jorge Luis Borges ...
er, ist kein Kraut gewachsen. Die Wintersonne zeigt an, wie bald das Licht erlischt in der Asche, wie bald uns die Nacht umfängt.
Stunde um Stunde wird an die Rechnung gereiht. Sogar die Zeit selber wird alt. Pyramiden, Triumphbögen und Obelisken
sind Säulen von schmelzendem Eis. Nicht einmal diejenigen, die einen Platz gefunden haben unter den Bildern des Himmels,
konnten auf immer ihren Ruhm sich erhalten. Nimrod ist im Orion verloren, Osiris im Hundsstern.
Kaum drei Eichen haben die größten Geschlechter überdauert. Den eigenen Namen auf irgendein Werk zu
setzen, sichert niemandem das Anrecht auf Erinnerung, denn wer weiß, ob nicht gerade die besten spurlos
verschwunden sind. Der Mohnsamen geht überall auf, und wenn an einem Sommertag unversehens das Elend wie Schnee über uns kommt, wünschen wir nurmehr, vergessen zu werden ...
Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung. Es verläuft nämlich die Geschichte jedes einzelnen,
die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen,
sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit.
Die eigene Wissenschaft vom Verschwinden in der Obskurität ist für Browne untrennbar verbunden mit dem Glauben,
daß am Tag der Auferstehung, wenn, so wie auf einem Theater, die letzten Revolutionen vollendet sind, die Schauspieler
alle noch einmal auf der Bühne erscheinen, to complete and make up the catastrophe of this great piece.
Der Arzt, der die Krankheiten in den Körpern wachsen und wüten sieht, begreift die Sterblichkeit besser als die Blüte des Lebens.
Ihn dünkt es ein Wunder, daß wir uns halten auch bloß einen einzigen Tag. Gegen das Opium der verstreichenden Zeit,
schreibt