"Alle (drei) Jahre wieder" kündigt der Chemnitzer Theater-Katalog die Schweizer Band "Kolsimcha" an.
Mit den denkwürdigen Konzerten 2011, 2014 und 2017 ist zwischen den weltberühmten Klezmer-Musikern und der Robert-Schumann-Philharmonie
eine wundervolle Beziehung gewachsen, deren Erfolgsgeschichte sich im Februar 2020 fortschreibt.
Am Montag aber erkrankt Ilya Ram, der Kapellmeister der Robert-Schumann-Philharmonie - überraschend springt am Mittwoch und Donnerstag Jakob Brenner ein.
Er hat gerade mal einen Tag Zeit, mit den Musikern zu proben - das Ergebnis ist beeindruckend:
Brenner führt die Schweizer Klezmer-Band und das - wie immer bestens aufgelegte - Orchester durch ein mitreißendes dreistündiges Sinfoniekonzert.
Das Publikum dankt den Musikern im ausverkauften Großen Saal der Stadthalle mit Beifallsstürmen und standing ovations.
Einleitend erzählt Olivier Truan, Komponist der meisten Lieder der Band und launiger Pianist, erst vor wenigen Tagen seine neue Komposition
"Spanish Suite" vollendet zu haben. die Suite reflektiert das weltoffene, aufblühende Spanien, bevor diese Epoche im Mitelalter mit den Kriegen
Alfons VII. ein Ende nimmt.
Eine lyrische, weit ausholende, aber auch kraftvolle und überschwängliche Komposition, die mit einem gewaltigen Schlusspunkt ausklingt.
Alle Mitglieder der Kolsimcha-Band brillieren mit Soli, Orchester und Band treten je perfekt in einen Dialog, wunderbar gelingen
Übergänge und gemeinsame Freudenausbrüche.
Klezmer, was ist das?
Klezmermusik ist leicht an den charakteristischen Melodielinien zu erkennen, die an menschliche Stimmen erinnern,
in bewusster Nachahmung des Chasan und paraliturgischen Gesangs. Hochvirtuose Instrumentalisten verdichten die melancholischen
Melodienen zu ekstatischen und oft verzweifelten Klagegesängen. Die Klänge gehen unter die Haut, berühren, weil sie direkt und ungefiltert
aus der Seele zu strömen scheinen. So fühlen sie sich an: die Krekhts (Krächzer, Stöhnen), Dreydlekhs (motivische Schnörkel) und Kwetschn
(gedrückte Töne, die wie Weinen klingen) und wie die musikalischen Formeln und Motive alle heissen. Mit den Tönen transportieren
die Musiker die Bilder, die wir mit hebräischen Klängen assoziieren. Volle saftige Melodien und Rhythmen. Klangbüschel, die zwischen
Dur und Moll oszillieren. Gefährliche Klänge. Sie enden zuweilen in Sackgassen. Auf Friedhöfen, im Konzentrationslager.
Dann streifen sie die Heiterkeit ab wie Masken und werden zu Todesfugen.
Die Klezmer-Musik entstammt der Volksmusiktradition des aschkenasischen Judentums. Etwa um das 15. Jahrhundert entfalten "klezmorim"
genannte Volksmusikanten eine Tradition weltlicher, nichtliturgischer jüdischer Musik. Sie orientieren sich an religiösen
Traditionen, die bis in biblische Zeiten zurückreichen; ihre musikalische Ausdrucksweise entwickelt sich weiter
bis in die Gegenwart.
Als die Juden in Osteuropa das Schtetl verlassen und zu Hunderttausenden in die USA auswandern, verbreitet sich die Klezmerkultur weltweit.
Viele berühmte jüdische Komponisten, wie Leonard Bernstein, Aaron Copland oder George Gershwin erleben während ihrer
Jugend nachhaltige Klezmer-Einflüsse.
Nichtjüdische Komponisten entdecken in der Klezmermusik eine reiche Quelle faszinierender musikalischer Themen. Dmitri Schostakowitsch bewunderte
die Klezmermusik für ihre Vereinigung von Ekstase und menschlicher Verzweiflung und zitiert einige Melodien in seinen kammermusikalischen Werken.
"Jede Volksmusik ist schön, aber von der jüdischen muss ich sagen, sie ist einzigartig! Sie ist so facettenreich,
kann fröhlich erscheinen und in Wirklichkeit tief tragisch sein. Fast immer ist es ein Lachen durch Tränen."
In den 1990er Jahren gründen sich immer mehr Ensembles, Popularität und Verbreitung von Klezmer steigen.
In den USA spielten und spielen jüdische Musiker Klezmer für ein jüdisches Publikum, in Europa und vor allem in Deutschland sind die Musiker und
ihr Publikum mehrheitlich nicht jüdisch, Klezmer wird vorwiegend als Weltmusik-Genre verstanden.
"Autostrada" mit der musikalischen Illustration der Autofahrt einer rumänischen "Zigeunerband" ist exemplarisch, wie Pianist Truan
selbstironisch erklärt. Auf dem Weg zu einem Konzert in die Schweiz - "die Schweiz ist natürlich eine Goldgrube,
das wissen auch die rumänischen Musiker - wir haben das noch nicht gemerkt" - haben sie "ausgerechnet bei Bruchsal" eine
Panne und legen den Rest des Weges mit Olivenöl statt Benzin im Tank ihres Lada zurück. Das gibt Band und Orchester Gelegenheit zu einer rasanten
Tour de Force, ohne Tempolimit und Atempause.
Michael Heitzler, Klarinette. Gründungsmitglied. Schon mit sieben ist ihm klar, dass er einmal Saxofonist und Klarinettist werden würde.
Er studiert klassische Klarinette, Saxofon und Improvisation, ist Stipendiat des DAAD und studiert bei Dave Liebman am Mannes College of
Music/New School in New York.
Er spielt er im SWF Sinfonieorchester Baden-Baden, der Jungen Deutschen Philharmonie, European Symphony Orchestra, Consortium Classicum
und in seiner Zeit in New York mit allen Jazz- und Klezmergrößen. Für »Gripsholm« vertont er Tucholskys Gedicht »Sie zu Ihm«, das Jasmin Tabatabai singt.
Das letzte Mal, dass er »so richtig« Urlaub gemacht hat, ist 20 Jahre her. Da ist er mit dem Auto von New York nach Seattle gefahren.
Fernseher hat er keinen.
Ariel Zuckermann Querflöte. Israelischer Dirigent und Flötist, studiert Flöte an der Musikhochschule München.
Seine Dirigierstudien beginnt er an der Königlichen Musikhochschule Stockholm, 2004 legt er sein Diplom bei Bruno Weil an der Musikhochschule München ab.
Als Flötist ist Zuckermann mehrfacher Preisträger nationaler und internationaler Wettbewerbe.
Seit 2002 ist er Solist bei Kolsimcha, 2007 bis 2013 Chefdirigent des Georgischen Kammerorchesters Ingolstadt. Weitere Dirigate u.a.
Israel Philharmonic Orchestra, Sinfonieorchester Basel, Münchner und Hofer Symphoniker, Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.
Daniel Fricker, Bass. Dozent für Fachdidaktik Kontrabass/E-Bass in Basel. Er absolviert seine Ausbildung an der Swiss Jazz School
in Bern und der Musikakademie Basel. Zahlreiche Aufnahmen und Tourneen mit der Sinfonietta Basel, Lionel Hampton, Tony Scott, Adam Nussbaum
und anderen renommierten Jazzmusikern.
Christoph StaudenmannSchlagzeug. Drummer, 1969 in Biel geboren.
Während vieler Jahre international auf Tour mit Brink Man Ship, spielt auf namhaften Festivals (Willisau, Schaffhausen, Montreal, Kaunas).
Zudem mit Tomas Sauter Tranceactivity, M2/5, Kaspar Ewald’s Exorbitantes Kabinett u.a. Seine Ausbildung absolviert er an den Jazzschulen Bern und Luzern.
Simon Girard, Posaune. Spielt mit Lou Lecaudey, dem bekannten französischer Jazz- und Improvisationsmusiker,
und Raphael Rossé in Basel an der Hochschule für Musik in einem Posaunentrio.
Olivier Truan Komponist, Pianist. Nach Musikstudium und Promotion in Boston und Basel konzertiert er mit Dee Dee Bridgewater,
Lew Soloff und Rick Margitza. Als musikalischer
Leiter und Komponist ist er an grossen Häusern in Deutschland und der Schweiz bei Theaterproduktionen federführend.
Auch als klassischer Komponist hat er sich einen Namen gemacht, u. a. schreibt er François Leleux ein
Konzert für Oboe und Orchester.
Außerdem ist das Multitalent Sound Designer und produziert preisgekrönte Sample Libraries, die Elton John, Stevie Wonder
und Prince benutzten.
Mit Kolsimcha, die er 1986 gründet, verwirklicht er seinen Lebenstraum
nämlich, dass das London Symphony Orchestra seine Musik spielt
Kol Simcha - Stimme der Freude -
(aus einem Segensspruch bei jüdischen Hochzeiten...)
Olivier Truan (der mit humorvollen Zwischenkommentaren und unterhaltsamen Hintergrundgeschichten
gekonnt durch die Abende führt und am Klavier tobt), die kongenialen Solisten Michael Heitzler, Simon Girard, Ariel Zuckermann,
Daniel Fricker und Christoph Staudenmann und wechselnde Symphonieorchester erbringen den Beweis, dass das
Mischen musikalsicher Stile und Brechen von Regeln Klänge erzeugt, die das Leben bereichern.
Der überirdische Klarinettenklang Heitzlers, an klassischer Spielweise kaum zu messen, wie der aller anderen Solisten
an ihren Instrumenten und das Wechsepiel zwischen Tutti und Soli sind eine federleichte Mixtur, die, einmal im
Innenohr, Areale des Gehirns flutet, die normale Dur- oder Molltonleitern und -harmonien nicht erreichen:
Da passiert mehr zwischen den Ohren ...
Die Kolsimcha-Band spielt in der New Yorker Carnegie Hall genauso wie bei den renommiertesten Jazz-, Klassik- und Weltmusikfestivals auf drei Kontinenten.
Dabei bleiben die Musiker mit ihren Kompositionen immer der Bedeutung ihres Band-Namens treu. Ihre lebensfrohe, energetische und virtuose Musiksprache
vereinigt streng Getrenntes miteinander: Klassische Kompositionstechniken gehen einen fruchtbaren Flirt mit Jazz, Weltmusik und Klezmer ein.
Ob Theater-, Ballett- oder Filmmusik - Kolsimcha bereichert mit seinem originären Klang jedes Publikum.
Mit dem Soundtrack zum Film Gripsholm sind sie in die Filmmusikgeschichte eingegangen.
1986 ist die Band unter dem Namen "Kol Simcha" in der Schweiz als Duo gestartet. Nachdem sie auf Hochzeiten Klezmer spielten
und großen Erfolg haben, fangen sie an, Konzerte zu geben.
The Chase
Noah
Elegy for a Friend
Ballett TEVYE - Gesamtaufnahme. Musik Olivier Truan