Wer im Herbst in der Bretagne segelt, an grauen, windigen Tagen, wenn Regenschauer über die Küste treiben
und die Touristen ausbleiben, und dann auf Ile Grande festmacht, muss exakt navigieren: Extremer Tidenhub!
Heute ist die Insel, wo man früher den blauen Granit brach, um die Strassen von Paris zu pflastern, ein Vogelparadies.
Als wir durch die Gassen des kleinen Inseldorfs schlendern, finden wir überrascht die Rue Joseph Conrad:
Im Frühjahr 1896 führt die Hochzeitsreise von Kapitän Konrad Korzeniowski (der sich später Joseph Conrad nennt)
und seiner jungen Frau Jessie George in die Bretagne. Auf Ile Grande mieten sie für ein halbes Jahr ein kleines, zweistöckiges Häuschen.
In Erinnerung an den malaysischen Inselarchipel, den er als Schiffskapitän so gut kennenlernte, zieht es den frisch verheirateten
Seemann wieder auf eine Insel.
Und seitdem ziehen dichte, weisse, alles umhüllende Nebel durch sein Werk, die für die Bretagne typischen Nebel ...
Am Ende seines Lebens, 1921, reist Conrad nach Korsika, auf der Suche nach dem Hause eines Freundes,
den er noch einmal sehen will - zu spät.
Im kleinen Dorf U Campu findet sich die Gedenktafel für
Dominique André Cervoni
Abenteurer und Navigator, den Conrad als Held vieler seiner Romane verewigt (Nostromo, Taifun, Lord Jim, a. u.).
Joseph Conrad: der erste écrivain-voyageur. Im Deutschen fehlt ein Äquivalent für diesen Begriff, 'Reiseschriftsteller'
bedeutet nicht dasselbe. Gemeint sind Autoren, bei denen das Unterwegssein Voraussetzung für ihr Werk ist,
wobei nicht die Anzahl der Kilometer, die sie zurücklegen, wichtig ist, sondern eine besondere Art des Umherschweifens im Raum.
Treffender könnte auch die Charakteristik für den großen
nicht sein.
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Joseph Conrad ist damals abgestiegen im Grand Hotel Continental; der Hotelpalast im Belle-Epoque-Stil war die feinste
Adresse in der Inselkapitale Ajaccio.
Heute residiert in dem Prachtbau mit Meerblick ein Mann, dessen Name noch bis vor kurzem auf dem französischen
Festland mit Aufnahmen von vermummten, bewaffneten Gestalten, schwarzen Fahnen und Sprengstoff in Verbindung gebracht wurde.
Gilles Simeoni
heißt er, Sohn des Patriarchen der korsischen Unabhängigkeitsbewegung, neuer Hoffnungsträger der Korsen.
Seit knapp einem halben Jahr sitzt er im großzügigen Amtszimmer des Président der Collectivité territoriale corse.
Auf seinem Schreibtisch stehen zwei Fahnen Seite an Seite, die schwarze korsische mit dem Maurenkopf und die blaue europäische
mit den Sternen. Simeoni lächelt spitzbübisch, seine blauen Augen funkeln, es bereitet ihm sichtlich Vergnügen,
das Fehlen der französischen Flagge zu kommentieren. Ein wenig wirkt es, als könne er es selbst noch nicht fassen,
dass zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte korsische Nationalisten die Inselregion verwalten.
Simeoni sieht sich in der langen Tradition des korsischen Befreiungskampfes
Seit 1982 hat die korsische Regionalregierung in Etappen immer mehr Kompetenzen übertragen bekommen.
Aber Simeoni reicht das nicht. Er träumt von einer korsischen Selbstverwaltung. Seinen Amtseid hat er auf die Schrift
des korsischen Freiheitshelden Pasquale Paoli „Über die Rechtfertigung einer Revolution in Korsika“ abgelegt.
Seine Antrittsrede hielt er in großen Teilen in korsischer Sprache. Auf der Insel schwärmen besonders die jüngeren
Wähler für den athletischen Politiker, der bei keinem Marathonlauf fehlt. Die Regierung in Paris hingegen sträubt sich
bis heute, in dem Machtwechsel in Ajaccio etwas anderes als einen Unfall an den Urnen zu sehen.
Wir sind die Erben eines langen Kampfes zur Anerkennung unserer Nation und unseres Volkes. Aber das reicht nicht aus,
unseren Sieg zu erklären. Die Nationalistenbewegung hat sich sehr verändert.
Auf die Phase des „Widerstands“ und der Gewalt aus dem Untergrund folge jetzt eine neue Phase des „nationalen Aufbaus“.
In seinem eleganten Anzug sieht der 49 Jahre alte Mann mit dem Kurzhaarschnitt nicht so aus, als sei er je vom Untergrundkampf
im Maquis angezogen gewesen. Aber der Eindruck täuscht:
Simeoni hat als Anwalt den Präfekten-Mörder Yvan Colonna in Paris vor Gericht verteidigt, der 1998 den Präfekten
Claude Erignac in Ajaccio auf offener Straße erschossen hat. Simeonis Bruder Marc soll den flüchtigen Schützen,
der vier Jahre im Maquis untertauchte, sogar beherbergt haben.
Gilles war acht Jahre alt, als sein Vater zusammen mit Freunden von der
„Aktion für eine Renaissance Korsikas“ (Arc) mit Jagdgewehren bewaffnet am 20. August 1975 das Weingut Depeille
in Aleria besetzte. Die Korsen wollten gegen die Geschäftspraktiken des Weinproduzenten protestieren,
der zu den Repatriierten zählte, die nach der Unabhängigkeit Algeriens großzügig mit Ländereien auf Korsika entschädigt worden
waren. Die Regierung in Paris reagierte auf die Aktion mit einem Großaufgebot an Sicherheitskräften.
Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem zwei Gendarmen getötet werden. Edmond Simeoni wurde vor
laufenden Fernsehkameras abgeführt. Vor einem Sondergerichtshof wurde ihm der Prozess gemacht.
Die Gerichtsverhandlung markiert die Geburtsstunde der korsischen Unabhängigkeitsbewegung FLNC
(Front de libération nationale corse), die 1976 erstmals in einer sogenannten blauen Nacht mit
21 Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam macht.
Das sind schmerzliche Kindheitserinnerungen, die Besuche bei meinem Vater im Gefängnis, aber auch die Attentatsversuche
auf meine Familie.
Korsika sei die Geisel eines verunsicherten Zentralstaates, der nicht in die Zukunft zu blicken wage.
Die Regierung ist wie gelähmt angesichts der internen Herausforderungen, der sozialen Unrast, der Terrorbedrohung und
der Gefahren religiös-ethnischer Parallelgesellschaften.
Seit 24 Jahren quält sich das Land mit die Sprachencharta der EU. Frankreich hat Angst. Die Regierung glaubt,
wenn sie im Fall Korsika nachgibt, dann werden andere Regionen auch Forderungen erheben und werde das Land zerfallen
Seine größte Hoffnung sei die EU, sagt Simeoni: Wir wollen uns direkt an Brüssel wenden, solange sich in Paris nichts bewegt.
Aufsehen erregten die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Einwanderer aus dem Maghreb. Ein muslimischer Gebetssaal wurde
verwüstet, mehrere Koran-Bände angezündet, das Fenster eines Kebab-Imbisses zertrümmert. „Die Korsen mögen keine Muslime“,
sagt eine Passantin. „Wir putzen und schuften für sie, aber wir gehören nicht zu ihnen“.
Die Schriftstellerin Marie Ferranti
weist solche Ideen vehement zurück. Korsika habe immer viel darauf gegeben, eine allen Religionen gegenüber tolerante
Gesellschaft aufzubauen. Schon Freiheitsheld Pasquale Paoli habe den Juden Schutz gewährt und ihnen 1764 versprochen,
sie „wie die Korsen zu behandeln. Korsika war die einzige Region in Frankreich, aus der während des Zweiten Weltkriegs kein
einziger Jude deportiert wurde“. Die Korsen hätten die jüdischen Mitbürger geschützt.
Im Büro des 55 Jahre alten Präsidenten des korsischen Regionalparlaments, Jean-Guy Talamoni, fehlen ein Porträt des französischen
Präsidenten François Hollande und die französische Flagge.
„Ich fühle mich nicht als Franzose“. Von Reue über die jahrelange Gewalt der Nationalisten ist bei ihm nichts zu spüren.
„Mit dem bewaffneten Kampf haben wir viel erreicht. Unsere Küsten wurden nicht betoniert wie an der Costa Brava. Wir haben
eine eigene Universität in Corte errungen und einen Sonderstatus. Ich stehe zu diesem Werdegang. Andernfalls wäre
das korsische Volk schon verschwunden.
Die Korsen wollen ihren Frieden mit Frankreich schließen und sich endlich emanzipieren, aber in Paris ist man blind,
taub und stumm“.
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