Eine Stadtpsychologin spricht:
Es reicht, vom Hauptbahnhof über die Georgstraße zur Straße der Nationen und dort in Richtung
Süden zu gehen. Ihr gelangt zum "Café Moskau", in dem Ihr, wenn Ihr
einen kleinen Hunger habt, Würzfleisch bestellen solltet. Hühnchen in einer dicklichen Soße, mit Käse überbacken - ein DDR-
Klassiker. Die Leute hier sagen nicht Würzfleisch, sondern Ragout fin
(Ihr solltet es "feng" aussprechen, wie ein echter Sachse). Habt Ihr großen Hunger, bestellt
Euch ein Schweinesteak au four. Das ist Steak mit Ragout fin.
Wegen des riesigen schwarzen Schädels von der Höhe eines dreistöckigen Gebäudes:
wie die Einheimischen sagen. Sie meinen damit den Kopf des Mannes, der allen Marxisten weltweit als das gilt, was Jupiter
bei den Römern - nämich Hauptgott, oder bei den Babyloniern Königsstern:
Seine angeblich in die Tat umgesetzte Theorie prägt ein halbes Jahrhundert die Gesellschaft
und Biografien in der Republik, die sich deutsch und demokratisch nannte, aber alles andere war, was Letzteres betrifft.
Bisher ist dem Aufruf kein Proletarier gefolgt, wohl deshalb, weil Egoismus und Nationalismus derer, die sich von den Kapitalisten
(die - privat oder staatlich organisiert - jedenfalls im Besitz der Produktionsmittel) ausbeuten lassen, immer siegte.
Und das, obwohl ihr geringer Anteil am riesigen Mehrwert der durch ihre Arbeit geschaffenen Güter, den andere sich aneignen,
immer noch größer ist als Solidarität und internationaler Gemeinsinn.
Der Karl-Marx-Kopf steht da zur Erinnerung daran, als die Stadt ihren Namen verliert - Stalin- und Leningrad lassen grüßen -
und die Herrschenden ihr den Namen geben des Rabbinersohns aus Trier, der Philosophie, Geschichte und Weltwirtschaft
so scharfsinnig analysierte, an der Ernährung von Frau und Kindern aber scheiterte, den reiche Freunde deshalb,
wie man heute sagt, sponsern mussten.
Wenn man, da Chemnitz schon immer ein schlimmer Ruf ("Rußgams") vorauseilt, dort hingeht, ist man gespannt und
gefasst auf Überraschungen.
Diese Stadt war einmal die Stadt der Maschinenbarone und Weber, 1936 mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen,
aber trotz der fast vollständigen Zerstörung durch britischen Bombenterror wenige Tage vor der Kapitulation und
trotz des Verfalls, erkennt man den großen Wurf früherer Zeiten, geht vorbei an ritterburgartigen
steinplastikgeschmückten Schulen, findet großzügige Projekte sozialen Wohnungsbaus aus den Zwanzigern mit menschlich-weiten
Innenhöfen und himmelhohen Pappeln.
Da sind Fabriken in vornehm anmutender Ziegelarchitektur (heute Restaurants, Penthouses u.a.), Gebilde der Frühmoderne,
viergeschossige Bürgerhäuser, die auf Schloss-, Kass- und Sonnenberg endlos laufen entlang der Straßenzeilen,
bezeugen vergangenen Reichtum, staatlich organisierter brauner Terror vertreibt ihre großbürgerlichen Eigentümer jüdischer Herkunft.
Das Letze, was übrig war, überließ ideologisch begründbar der sozialistische Aufbau dem Verfall oder er räumte großflächig beiseite,
was Platz schaffte für Platte und Einheitsstil. Moderne Glas- und Betonarchitektur, an Größenwahn, Scheußlichkeit und
schauerlicher Namensgebung, "Mittelstandsmeile" etwa, sich überbietend, krönen das Ganze nach der Wende.
Auf der Bahnhofstraße zwischen einem alten Kaufhausgebäude und der Zentralhaltestelle reißen riesige Krododile ihre
Mäuler aus Glas und Metall weit auf, hingelagert gegeneinder, um Autos zu schlucken, deren Insassen konsumierend
Binnenkonjunktur ankurbeln sollen, während über allem eine seltsam anmutende - an Erzengel Gabriel erinnernde Figur -
ihr Händchen hilflos hebt auf hohem Stiel.
All das aber, was inbrünstige Bauwut jüngst um ein schönes altes Rathaus der sich neuerdings "Stadt der Moderne"
nennende aufgerichtet hat, was entstanden ist auf der archäologsichen Zwischenspielwiese, dort könnte man eher
meinen in einer Avenue auf Manhattan Island zu sein, als im Kern einer Stadt, die mit atemberaubenden Tempo
einer demographischen Katastrophe zutreibt
"Ich komm aus Karl-Marx-Stadt", singt die Band Kraftkluh. Es ist Loserstolz, der sich in dieser Stadt breitgemacht hat, fröhlicher
Pessimisrnus. Das Stadtmarketing hat einmal vesucht, Chemnitz ein neues Image zu verpassen. »Stadt der Moderne« wurde auf
Autobahnschilder gedruckt. »Statt der Moderne« machten Unbekannte daraus.
Wenn Ihr der Brückenstraße folgt, dann erreicht Ihr den Schlossteich, eine kleine Idylle in der Stadt. Paddelboote schippern auf dem Wasser,
Schwäne picken im Gras, Menschen liegen auf dem Rasen. Die Schlosskirche oben auf dem Berg ist ein Highlight, hoch und heil.
Selbstverständlich mit Apostroph.
Ein aus dem Westen zugereister Wissenschaftler hält, wie er in der 'Süddeutschen' schreibt, den Anschlag am Eingang seines
Instituts "Bitte beim Verlassen des Gebäudes Heizung aufdrehen!" für einen Scherz. Er wurde belehrt, es sei geanu so gemeint:
Energie habe nichts gekostet, doch wegen Kälte geplatzte Rohre wären unersetzlich gewesen.
Chemnitz ist in den letzten zwei Jahrzehnten in atemberaubender Geschwindigkeit praktisch neu gebaut worden, jeder hat Telefon,
das Verkehrsnetz ist auf hohem Niveau, die überregionale Anbindung an Straße und Schiene ist hervorragend.
Weil in dieser Stadt, wo Ruinen und hypermoderne Paläste aus Stahl, Glas und Beton, postmodernste Kunst mit
Bombengrundstücken des 2. Weltkriegs stets direkt benachbart sind, mitunter die Klüfte Bewohner wie Planer und Macher überfordern
mehr als wohl in jeder anderen deutschen Stadt, könnte der Dönerverkäufer vom Bosporus neben der feudalen Villa, der vietnamesische
Blumenverkäufer neben dem frierenden Geiger aus Leningrad, der Wochenmarkt im Zentrum am Mekong sein,
die Niki St.Phall-Puppe unter dem Glasdach der Markhalle mit Pariser Flair, die schwebt über fliegenden Händlern, Imbissbuden
und Ramsch, in Paris ...
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