Eine Stadtpsychologin spricht:
Stellt Euch eine Familie mit drei Kindern vor. Kind eins ist schön und entsprechend arrogant. Wenn man es kritisiert, wird es zickig. Kind zwei ist lässig und hat dementsprechend viele Freunde. Nur Kind drei ist weder besonders schön noch besonders cool und allenfalls bei älteren Leuten beliebt.

So wie Kind drei müsst Ihr Euch Chemnitz vorstellen. Es ist eingeklemmt zwischen Dresden und Leipzig, den beiden anderen Großstädten in Sachsen. Die polarisieren, die ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Chemnitz, dazwischen, hat Minderwertigkeitskomplexe.

Über Chemnitz machen sogar die Chemnitzer Witze. Die Stadt gilt als überaltert. Kein Mensch will hierher reisen. Aber wenn doch mal einer herkommt, kann er es meist gar nicht fassen. So was gibt's hier, fragen die Leute, so eine schöne Schlosskirche? So ein tolles Jugendstil-Viertel? Sieh mal einer an!
Chemnitz, das ist die Sieh-mal-einer-an-Stadt der Republik. Im Ganzen nicht unbedingt harmonisch, in den Details aber überraschend und bisweilen wunderschön.

Es reicht, vom Hauptbahnhof über die Georgstraße zur Straße der Nationen und dort in Richtung Süden zu gehen. Ihr gelangt zum "Café Moskau", in dem Ihr, wenn Ihr einen kleinen Hunger habt, Würzfleisch bestellen solltet. Hühnchen in einer dicklichen Soße, mit Käse überbacken - ein DDR- Klassiker. Die Leute hier sagen nicht Würzfleisch, sondern Ragout fin (Ihr solltet es "feng" aussprechen, wie ein echter Sachse). Habt Ihr großen Hunger, bestellt Euch ein Schweinesteak au four. Das ist Steak mit Ragout fin.

Gegenüber dem Café Moskau liegt der Theaterplatz: eine prächtige Oper, eine pittoreske Kirche und ein schönes, mehr als hundert ]ahre altes Museumsgebäude. Und warum hat man das alles noch nirgendwo auf Bildern gesehen?

Wegen des riesigen schwarzen Schädels von der Höhe eines dreistöckigen Gebäudes:

Dr Nischl

wie die Einheimischen sagen. Sie meinen damit den Kopf des Mannes, der allen Marxisten weltweit als das gilt, was Jupiter bei den Römern - nämich Hauptgott, oder bei den Babyloniern Königsstern:

Karl Marx.

Seine angeblich in die Tat umgesetzte Theorie prägt ein halbes Jahrhundert die Gesellschaft und Biografien in der Republik, die sich deutsch und demokratisch nannte, aber alles andere war, was Letzteres betrifft.
Am Plattenbau dahinter, der einst so wichtige Behörden beherbergte wie etwa das Amt für Inneres, zitiert ein überdimensionales, vier Stockwerke hohes Tableau aus Metall und vielen Sprachen den Beginn des Marxschen Manifestes, nämlich die Aufforderung an die Proletarier aller Länder, sich zu vereinigen gegen die Kapitalisten.

Bisher ist dem Aufruf kein Proletarier gefolgt, wohl deshalb, weil Egoismus und Nationalismus derer, die sich von den Kapitalisten (die - privat oder staatlich organisiert - jedenfalls im Besitz der Produktionsmittel) ausbeuten lassen, immer siegte. Und das, obwohl ihr geringer Anteil am riesigen Mehrwert der durch ihre Arbeit geschaffenen Güter, den andere sich aneignen, immer noch größer ist als Solidarität und internationaler Gemeinsinn.

Der Karl-Marx-Kopf steht da zur Erinnerung daran, als die Stadt ihren Namen verliert - Stalin- und Leningrad lassen grüßen - und die Herrschenden ihr den Namen geben des Rabbinersohns aus Trier, der Philosophie, Geschichte und Weltwirtschaft so scharfsinnig analysierte, an der Ernährung von Frau und Kindern aber scheiterte, den reiche Freunde deshalb, wie man heute sagt, sponsern mussten.
Im neuen Namen der Stadt, deren Bewohner wie der Erste Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Ulbricht auch, sich notorisch weigern, ein offenes A zu sprechen, sondern stattdessen ein dunkles nasales O verwenden, kommmt nur noch der Vokal A vor und die richtige Antwort auf die Frage nach einer Stadt mit drei Os in der DDR lautet von nun an:

Gorl-Morx-Stood

Wenn man, da Chemnitz schon immer ein schlimmer Ruf ("Rußgams") vorauseilt, dort hingeht, ist man gespannt und gefasst auf Überraschungen.
Erste Überraschung: Dr Nischel wirkt noch größer als gedacht (er ist und bleibt der gößte Marx-Kopf weltweit). Es leuchtet deshalb ein, dass, wie eine Frau kundtut aus ihren Kindertagen in Karl-Marx-Stadt, ihre Mutter, um sie zur Raison zu bringen, angedroht habe, am "Angstonkel" vorbeizugehen ...

Eine andere Überraschung ist, dass sich die Chemnitzer, nachdem sie durch rasches Plebiszit ihren Namen wieder erlangten, sich dem von Besserwessis initiierten Wunsch, das Marx-Denkmal zu entfernen, mehrheitlich widersetzen. Hut ab!



Diese Stadt war einmal die Stadt der Maschinenbarone und Weber, 1936 mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, aber trotz der fast vollständigen Zerstörung durch britischen Bombenterror wenige Tage vor der Kapitulation und trotz des Verfalls, erkennt man den großen Wurf früherer Zeiten, geht vorbei an ritterburgartigen steinplastikgeschmückten Schulen, findet großzügige Projekte sozialen Wohnungsbaus aus den Zwanzigern mit menschlich-weiten Innenhöfen und himmelhohen Pappeln.

Da sind Fabriken in vornehm anmutender Ziegelarchitektur (heute Restaurants, Penthouses u.a.), Gebilde der Frühmoderne, viergeschossige Bürgerhäuser, die auf Schloss-, Kass- und Sonnenberg endlos laufen entlang der Straßenzeilen, bezeugen vergangenen Reichtum, staatlich organisierter brauner Terror vertreibt ihre großbürgerlichen Eigentümer jüdischer Herkunft.
Kontrast: von den Höhen der Erzegbirgsausläufer im Süden gut zu erkennen das Heckertgebiet, Synonym für Plattenbauten, städtebauliches Wahrzeichen all der Städte im Osten, wo man die Menschen gestapelt ablegt in zugeteilte Ein-, Zwei- und Dreiraumwohnungen wie erledigte Akten in Betreff-Schränken, erschlossen durch vierbahnige Straßen mit östlich klingenden Namen und einer breitspurigen Straßenbahn.

Das Letze, was übrig war, überließ ideologisch begründbar der sozialistische Aufbau dem Verfall oder er räumte großflächig beiseite, was Platz schaffte für Platte und Einheitsstil. Moderne Glas- und Betonarchitektur, an Größenwahn, Scheußlichkeit und schauerlicher Namensgebung, "Mittelstandsmeile" etwa, sich überbietend, krönen das Ganze nach der Wende.

Auf der Bahnhofstraße zwischen einem alten Kaufhausgebäude und der Zentralhaltestelle reißen riesige Krododile ihre Mäuler aus Glas und Metall weit auf, hingelagert gegeneinder, um Autos zu schlucken, deren Insassen konsumierend Binnenkonjunktur ankurbeln sollen, während über allem eine seltsam anmutende - an Erzengel Gabriel erinnernde Figur - ihr Händchen hilflos hebt auf hohem Stiel.

All das aber, was inbrünstige Bauwut jüngst um ein schönes altes Rathaus der sich neuerdings "Stadt der Moderne" nennende aufgerichtet hat, was entstanden ist auf der archäologsichen Zwischenspielwiese, dort könnte man eher meinen in einer Avenue auf Manhattan Island zu sein, als im Kern einer Stadt, die mit atemberaubenden Tempo einer demographischen Katastrophe zutreibt
1930: 360.000,
1945: 250 000,
1989: 335 000,
2008: 241.504 (steigend Eingemeindungen),
2016: 246.000 Einwohner, am höchsten die Quote der Abwandernden bei jungen Frauen.

Dennoch landen die Chemnitzer auf der Suche nach einer neuen Identität immer wieder bei ihrem alten Patron. "FCK!" brüllen die Anhänger des - dazwischen bankrotten - Fußballvereins, obwohl der schon lange Chemnitzer FC heißt.



Ich steh auf Kaffee, Kippen und Diamant-Räder,
Ich war nie der in-der-Klasse-vorne-Sitzer-und-die-Hand-heber
Eher so Angeber, ein verpeilter hänger-daran,
Hat sich bis heute eigentlich nicht viel geändert, verdammt!

Ich kann nix dafür, doch die meisten begreifen nicht,
dass es nicht meine Schuld ist, wenn mein Leben scheiße ist.
Sondern eigentlich das System, Politik und Hartz IV,
egal woran es liegt, es liegt nicht an mir.

Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!

Ich steh auf keiner Gästeliste,
ich bin nicht mal cool in einer Stadt, die voll mit Nazis ist, Rentnern und Hools.
Ich cruise Banane essend im Trabant um den Karl-Marx-Kopf,
die Straßen menschenleer und das Essen ohne Farbstoff.
Diskriminiert, nicht motiviert, von der Decke tropft das Wasser, nix funktioniert.
Und so wohnen wir in Sachsen, auf modernden Matratzen,
immer jut drauf auch ohne Kohle in den Taschen.

Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!

Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!
Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer Baby, original Ostler!

AHHHHHHHHHHHHHHHHH!

"Ich komm aus Karl-Marx-Stadt", singt die Band Kraftkluh. Es ist Loserstolz, der sich in dieser Stadt breitgemacht hat, fröhlicher Pessimisrnus. Das Stadtmarketing hat einmal vesucht, Chemnitz ein neues Image zu verpassen. »Stadt der Moderne« wurde auf Autobahnschilder gedruckt. »Statt der Moderne« machten Unbekannte daraus.

Wenn Ihr der Brückenstraße folgt, dann erreicht Ihr den Schlossteich, eine kleine Idylle in der Stadt. Paddelboote schippern auf dem Wasser, Schwäne picken im Gras, Menschen liegen auf dem Rasen. Die Schlosskirche oben auf dem Berg ist ein Highlight, hoch und heil.

Zum Schluss solltet Ihr über Schlossteich- und Bergstraße zum Kaßberg laufen, dem schönsten Viertel. Eines der größten Jugendstil-Areale Europas.

"Chemnitz ist Sachsens Paris" - mit solcherlei Slogans würde sich diese Stadt nie schmücken. In Chemnitz wird nichts überverkauft. Das ist sowohl Dilemma wie Charme dieser Stadt.

Ein empfehlenswertes Lokal auf dem Kaßberg übrigens heißt, da könnt Ihr ruhig lachen;

Selbstverständlich mit Apostroph.

Wie W. G. Sebald sein Birmingham-Erlebnis nach der Ankunft in England Ende der Sechziger Jahre mit wohl schwer verkrafteten seelischen Schäden hatte (Die Ausgewanderten, Max Ferber), wen kann es Wunder nehmen, dass Leute, die hierher finden und die Stadt durchwandern in alle Richtungen, die Industriebrachen und ganze Straßenzüge, die leer stehen, durchstreifen, ähnliche Schwierigkeiten bekommen könnten.

Ein aus dem Westen zugereister Wissenschaftler hält, wie er in der 'Süddeutschen' schreibt, den Anschlag am Eingang seines Instituts "Bitte beim Verlassen des Gebäudes Heizung aufdrehen!" für einen Scherz. Er wurde belehrt, es sei geanu so gemeint: Energie habe nichts gekostet, doch wegen Kälte geplatzte Rohre wären unersetzlich gewesen.
Die von Sebald bei seinen deutschen Landsleuten beklagte Amnesie hinsichtlich der Geschehnisse vor 1945, sie grassiert nun zunehmend auch bei der nachwachsenden Jugend, die ein Vorher und Nachher (1989) aus eigenem Erleben nicht kennt, und dazwischen liegen, auch wenn es ein abgegriffener Jargon ist, tatsächlich Welten.
Denn auch dies ist wahr:

Chemnitz ist in den letzten zwei Jahrzehnten in atemberaubender Geschwindigkeit praktisch neu gebaut worden, jeder hat Telefon, das Verkehrsnetz ist auf hohem Niveau, die überregionale Anbindung an Straße und Schiene ist hervorragend. Weil in dieser Stadt, wo Ruinen und hypermoderne Paläste aus Stahl, Glas und Beton, postmodernste Kunst mit Bombengrundstücken des 2. Weltkriegs stets direkt benachbart sind, mitunter die Klüfte Bewohner wie Planer und Macher überfordern mehr als wohl in jeder anderen deutschen Stadt, könnte der Dönerverkäufer vom Bosporus neben der feudalen Villa, der vietnamesische Blumenverkäufer neben dem frierenden Geiger aus Leningrad, der Wochenmarkt im Zentrum am Mekong sein, die Niki St.Phall-Puppe unter dem Glasdach der Markhalle mit Pariser Flair, die schwebt über fliegenden Händlern, Imbissbuden und Ramsch, in Paris ...